Bist du mein Kind? (German Edition)
ihr muss ich reden. Wir verstehen uns blind und ohne Worte. Sie wird mir helfen, das weiß ich genau. Ich muss telefonieren. Wenn ich mit ihr alles besprochen habe geht es mir sicher besser. Besser? Ich fühle mich eigentlich gar nicht schlecht. In meinem Kopf wird es dämmrig und ich schlafe wieder ein.
Ein sanftes Schütteln weckt mich auf. Allmählich kämpfe ich mich durch den Schlaf nach oben ins Bewusstsein. Wer packt mich an der Schulter und schüttelt mich? Eine Frau sieht mich an. Eine nette Frau. Sie hat ein offenes Lächeln und ihre Augen sind sehr hellblau.
Ich stütze mich auf und schiebe mich in Sitzposition.
„Guten Tag“, sagt die nette Frau. „Wie fühlen Sie sich?“
Während ich noch sortiere und meine französischen Vokabeln zusammen suche, merke ich, dass sie deutsch mit mir gesprochen hat. Ich bin unendlich erleichtert. Zwar ist mein Französisch ziemlich gut und ich kann mich auch prima verständigen, aber es ist eine Wohltat, in dieser Situation meine Muttersprache zu gebrauchen.
„Ich heiße Hedwig Linde und bin hier im Krankenhaus Psychologin. Ich bin Belgierin, gehöre aber zu der kleinen deutschsprachigen Minderheit, die hier in Belgien lebt.“
„Ich bin froh, dass Sie deutsch sprechen. Wissen Sie, mir ist so viel Schreckliches passiert, mir und meiner Familie und ständig bin ich auf französisch sprechende Menschen angewiesen, aber jetzt, wo ich alles vermasselt habe, bin ich froh, dass ich deutsch reden kann.“
Sie lächelt mich an.
„Das glaube ich Ihnen. Was haben Sie vermasselt? Ich habe bisher nur Ihre Krankenakte gelesen und mit einem französischen Herrn gesprochen, aber die ganze Situation kenne ich noch nicht. Wollen Sie mir alles erzählen?“
Ja, ich will alles erzählen. Und ich fange am Tag unserer Abreise aus Köln an und ich verheimliche ihr nichts. Auch nicht, dass ich zwischenzeitig meinem Mann die Schuld gegeben habe, dass Maxi entführt werden konnte.
Und dass ich dann dafür gesorgt habe, dass wir unseren Sohn wahrscheinlich für immer verloren haben.
Und dass ich noch nicht mal ein schlechtes Gewissen deswegen habe, weil ich ja nun diese Medikamente bekomme und ich nichts mehr empfinde.
Und dass ich jetzt in Zusammenarbeit mit dem Arzt eine Entscheidung treffen muss, ob ich diese Medikamente weiter nehmen will und dass ich nicht weiß, wie ich mich entscheiden soll.
Sie hört nur zu und macht sich zwischendurch ein paar Notizen. Gelegentlich sieht sie mich aufmerksam und wie ich meine, prüfend an. Als ich am Ende bin und nichts mehr sage, holt sie tief Luft. Dann atmet sie laut aus und sagt mit einer sehr weichen Stimme:
„Das ist schlimm, was passiert ist. Ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll, Ihnen zu helfen. Puh. Dass Sie noch nicht durchgedreht sind, grenzt für mich an ein Wunder.“ Sie macht eine Pause und fängt erneut an:
„Also, erst Mal müssen wir versuchen, heraus zu finden, was Sie wollen. Medikamente ja oder nein? Sie sagen, dass Sie vollkommen klar denken können und dass Sie genau wissen, was passiert ist, aber keinerlei Empfindungen wegen des Verlustes Ihres Kindes haben. Wie steht es mit anderen Gefühlen? Was empfinden Sie, wenn Sie an Ihre beiden anderen Söhne denken?“
Ich überlege, was ich empfinde. Ganz tief lausche ich nach innen. Nichts. Kein Gefühl.
„Ich weiß, dass ich meine Kinder über alles liebe und dass ich für sie sterben würde. Vor den Medikamenten habe ich das auch deutlich gespürt. Irgendwie so warm von der Brust bis in den Bauch. Aber ich habe kein warmes Gefühl in der Brust. Nur das Wissen im Kopf, dass ich sie liebe.“
„Denken Sie an Ihren Mann und sagen Sie mir, ob sich das nach irgendetwas anfühlt. Hass, Wut, Rache, alles wäre im Moment in Ordnung.“
Neuer Versuch.
„Das Gleiche. Im Kopf weiß ich genau, was ich in den letzten Tagen alles für meinen Mann empfunden habe, aber es ist, als hätte ich das vergessen oder verlernt. Ich bin mir nicht sicher, ob mir das gefällt.“
„Ich bin mir nicht sicher, ob mir das aus psychologischer Sicht gefällt, dass Sie sich nicht der Situation stellen können, in der Sie sich befinden“, wirft sie ein.
„Sicher ist es aus medizinischer Sicht vernünftig, Sie für ein paar Tage verschnaufen zu lassen, aber langfristig kann ich das nicht gutheißen. Sie können das Ganze nur verarbeiten, wenn Sie fühlen, spüren und empfinden können. Sie brauchen die ganze Palette, um halbwegs alles zu verdauen.“
Will ich das? Im Moment finde
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