Bist du mein Kind? (German Edition)
ich es gut, dass ich die Dinge nur verstandesmäßig verdaue. Ich glaube, ich will gar nichts fühlen. Oder doch? Ich bin doch ein emotionaler Mensch. Kopfgesteuerte Menschen lösen bei mir eher Unverständnis aus, weil ich glaube, dass ihnen etwas Wichtiges für ein gutes Leben fehlt. Und jetzt soll ich durch Medikamente kopfgesteuert werden?
Aber es tut so gut, für einen Moment nicht zu leiden. Ich hatte vor den Medikamenten ständig ein Gefühl der Beklemmungen, des Versagens und ach ich weiß es nicht in Worte zu fassen. Jetzt fühle ich nichts. Ich kann noch nicht mal fühlen, ob sich das gut anfühlt oder nicht. Was will ich genau? Frau Linde sieht mich erwartungsvoll an. Ich halte ihren Blick aus und zucke die Schultern.
„Geht es nicht?“ fragt sie.
„Nein“, schüttele ich den Kopf. „ Ich weiß nicht, wie ich mich entscheiden soll. Ich bin am Ende, das weiß ich genau. Aber ich fühle es nicht. Was soll ich tun? Helfen Sie mir!“
„Ich kann versuchen, Ihnen zu helfen, aber ich kann nicht für Sie entscheiden. Versuchen wir, uns heranzutasten.“
Wir haben dann wirklich über Stunden das Thema von allen Seiten betrachtet. Immer wieder habe ich alles in kleinen Stücken erzählt, was passiert ist, seit wir hier angekommen sind. Immer wieder habe ich versucht, zu empfinden. Und immer wieder ging es nicht. Je öfter wir über alles sprechen, desto mehr wird mir klar, dass mir mein jetziger Zustand nicht gefällt. Ich will weinen, schreien, schluchzen, verzweifeln, meine Kinder lieben und mich mit dem Gedanken vertraut machen, wie es wohl wird, wenn ich meinem Mann gegenüber trete und ihm sagen muss, dass ich alles versaut habe. Ich will auch die Schuldgefühle durchleben, die Trauer, die Verzweiflung.
Alles. Volle Breitseite.
Frau Linde greift nach meiner Hand. Ich drücke sie.
„Okay, ich bin zu einer Entscheidung gelangt. Ich will keine Medikamente.“
Sie lächelt mich an. „Das ist gut so. Ich möchte auch, dass Sie alles durchleben, denn nur dann werden Sie nicht an der Seele krank. Sie werden sowieso eine Therapie brauchen, um alles zu verarbeiten, aber nur so geht es.“
Ich umarme sie. Als sie sich erhebt, öffnet sich die Tür und eine weitere Krankenschwester kommt mit einem Tablett voller Essen und Getränke hinein.
„Für Euch beide“, sagt sie. „Damit ihr vor lauter Quatscherei nicht vom Fleisch fallt.“
Wir müssen beide lachen.
„Ich schicke Ihnen Dr. Devineau“, sagt Frau Linde und winkt mir nochmal zu, bevor sie das Zimmer verlässt.
2001 Mai Tag 10 in Frankreich
Als ich alles zusammengepackt habe, setze ich mich erwartungsvoll auf mein Bett. Im Krankenhaus hatte man meine Sachen gewaschen, sodass ich sie frisch wieder anziehen konnte.
Dr. Devineau hat mir in einem langen Gespräch erklärt, dass es noch einige Tage dauern wird, bis die benebelnde Wirkung komplett aufhört, aber dass ich auf diese Weise einen „sanften“ Schock erleiden werde. Gut so.
Ich habe ein komisches Gefühl im Bauch, weil ich nicht weiß, wer mich abholt und wie ich zurück komme zu Wolfgang und den Kindern.
Ich höre Schritte. Ein Klopfen an der Tür. Herzklopfen. Die Tür geht auf und ein Triumvirat kommt herein: Jean-Marie, Phillipe und Romain.
Sie sehen mich alle komisch an.
Bevor einer von ihnen etwas sagen kann, lege ich los:
„Ich weiß, ich habe alles versaut, es tut mir leid, dass ihr euren Fall nicht lösen könnt, aber ich wollte nur mein Kind. Ich habe das nicht ausgehalten, was ich gehört habe, deshalb bin ich losgelaufen, es war….“
Jean-Marie ergreift meine Hand.
„Sch“, sagt er. „Du sollst nicht reden. Wir bringen dich jetzt erst mal ins Präsidium. Dort informieren wir dich über den neuen Stand und anschließend fliegen Phillipe, du und ich zurück zu deiner Familie.“
Hoffnung spüre ich, ganz leicht. Die Medikamente oder..?
„Habt ihr Maxi?“ Bang stelle ich diese Frage.
Phillipe schüttelt den Kopf. In mir bricht was. Da kommen sie, die untergetauchten Gefühle.
Aber das habe ich ja so gewollt.
Romain nimmt schweigend meinen Rucksack, der auch irgendwie im Krankenhaus gelandet ist und wir setzen uns in Bewegung.
Gerne hätte ich die Psychologin nochmal gesehen und mich bei ihr bedankt. Aber es ist niemand zu sehen.
Draußen steigen wir in einen Polizeiwagen und es geht los Richtung Präsidium. Ich sehe Menschen auf der Straße, die ihren Alltag leben. Ich sehe blauen Himmel und Sonnenstrahlen.
Was ich nicht sehe, ist unsere Zukunft.
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