Bitte nicht füttern: Roman (Piper Taschenbuch) (German Edition)
seiner Anwesenheit im Cockleshell waren in der Tat nicht für die Öffentlichkeit gedacht.
War die halbe Wahrheit eine Lüge?
Wenn Linda dort arbeitete, würde sie dem Jungen früher oder später über den Weg laufen. Und sprach Sydneys Sprache. Vielleicht würde er auf diese Weise reden. Das wäre natürlich großartig. Aber wer wusste schon, was er dann so reden würde?
Rory überlegte sich sehr gut, was er sagte.
»Mein Vater lässt sich gerade scheiden. Er braucht Geld.«
Ihr schelmisches Lächeln erstarb.
»Tut mir leid, ich wollte nicht ...«
»Nein, nein, kein Problem, wirklich. Bitte. Alle, die hier arbeiten, wissen es ja, und wahrscheinlich wirst du den beiden auch demnächst mal über den Weg laufen ...«
»Den beiden?«
»Meinem Vater Frank und meinem kleinen Bruder Sydney.«
»Ach, du hast einen jüngeren Bruder? Wie schön! Endlich erfahre ich ein bisschen über dich. Wie alt ist er denn?«
»Sieben.«
»Ach, wie süß. Ist er dir ähnlich?«
»Nee, kann man nicht sagen«, grinste Rory. »Obwohl seine Kochkünste von Tag zu Tag besser werden. Aber genau genommen ist er mein Stiefbruder.«
»Und dann bleibt er bei deinem Vater statt bei seiner Mutter?«
»Sie hat meinem Vater das alleinige Sorgerecht angeboten ... Sie ist nicht gerade der mütterliche Typ ...« Er behielt sie im Auge, um ihre Reaktion darauf zu sehen.
Sie runzelte die Stirn. »Das tut mir leid für ihn. Aber zum Glück hat er ja deinen Vater. Und dich.«
»Na ja.«
»Nichts na ja. Nicht alle Kinder haben so ein Glück. Arbeitet dein Vater denn auch hier?«
»Im Moment nicht, aber ihm hat das Cockleshell vor mir gehört.«
»Also ist es eine Art Familienunternehmen wie unser Weingut?«
»Könnte man sagen, ja.«
»Und du machst das hier schon immer?«
Er nickte.
»Du bist wie mein Bruder. Wahrscheinlich wurde es einfach von dir erwartet. Aber ist es auch das, wovon du als Kind geträumt hast?«
»So habe ich darüber noch nie nachgedacht. Mein Weg war irgendwie vorgezeichnet. Ich musste das Cockleshell übernehmen.«
»Du hattest keine Wahl?«
»So würde ich das nicht ausdrücken. Das klingt, als wäre ich unglücklich damit, und das bin ich nicht. Ich liebe das alles hier, oder zumindest liebe ich es zu kochen ... Und als mein Vater den Pub aufgeben wollte, hätte ich bestimmt vorschlagen können, alles zu verkaufen. Aber du weißt ja, wie das ist mit Familienunternehmen, die schon seit Generationen laufen ...«
Sie nickte.
»Man denkt gar nicht ernsthaft über etwas anderes nach. Man tut, was zu tun ist.«
»Das ist hier also dein Leben.«
»Und ist es immer gewesen.«
»Wolltest du denn nie mal was von der Welt sehen? Reisen?«
»Ich habe eigentlich nie richtig Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Ich war so damit beschäftigt, den Pub in ein Restaurant zu verwandeln und das hier auf die Beine zu stellen. Natürlich gibt es Länder, die ich gerne mal bereisen würde, und wenn es nur wäre, um das Essen vor Ort zu kosten ...« Sein Blick schweifte ab, als stelle er sich die Aromen exotischer Speisen an ihren Ursprungsorten vor. »Aber ich habe nie die Möglichkeit gehabt, zu reisen.«
»Wenn man weiß, dass man etwas nicht haben kann – ist es dann schon gleich Zeitverschwendung, darüber nachzudenken?« In ihrem Blick lag etwas, das er nicht deuten konnte.
»Ich schätze, das kommt ganz drauf an, wie sicher man sich ist, dass es wirklich absolut unerreichbar ist ...«
Sie sahen sich tief in die Augen.
Keiner wich dem Blick des anderen aus.
»Soll ich noch eine Flasche aufmachen?«, fragte er leise.
Da die erste Flasche noch nicht leer war, wussten sie beide, dass er sie in Wirklichkeit fragte, ob sie noch bleiben würde.
Sie sah auf die Uhr.
»Musst du los? Hast du noch etwas vor?«
Linda zögerte.
Sie sollte jetzt besser gehen.
Aber nicht, weil sie etwas anderes vorhatte. Sondern damit sich ihr Plan, in den nächsten Wochen und Monaten etwas von der Welt zu sehen, nicht in Wohlgefallen auflöste.
Und doch nickte sie nicht. Und doch verabschiedete sie sich nicht. Sie ignorierte seine zweite Frage, nahm die angebrochene Flasche, schenkte ihnen beiden den Rest ein und sagte lächelnd: »Immer her mit der nächsten Flasche.«
Als sie die zweite Flasche geleert hatten, fühlten sich beide immer noch komplett nüchtern, als hätten sie keinen einzigen Tropfen getrunken.
Der Alkohol war offenbar nicht stark genug, um den deliranten Zustand zu durchdringen, in dem die beiden sich aus anderen
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