Bitte sagen Sie jetzt nichts
fluchten wir wütend über die, die das getan hatten, vor uns hin. Wir waren außer uns, wie Jungs eben sein können, wenn ihnen etwas aufs Äußerste missfällt. Und da kam ein Erwachsener, ein Zivilist, und sagte: »Wenn ihr nicht sofort ganz ruhig seid, dann wird euch was passieren! Haltet hier die Schnauze.« Wir als fünfzehnjährige Jungs verwahrten uns ein wenig dagegen, sahen aber, dass die Bevölkerung aufs Äußerste erschreckt war, jedoch nicht reagierte. In der Erinnerung ist mir dieses Bild klar vor Augen: Diese Menschen, die schweigend durch die Straßen gingen. Es war nicht etwa Begeisterung über diese Tat, nein, aber auch keine Empörung.
Corti Die gingen alle vom Rasen?
Loriot Ja, die gingen gewissermaßen vom Rasen. Sie waren vollkommen paralysiert. Sie sagten nichts, sahen es, waren nicht empört und auch nicht begeistert - sie waren einfach nicht vorhanden. Da waren wir so allein mit unserer kindlichen Empörung, weil wir nicht wussten, was wir mit dieser Empörung taten. Wir wussten nicht, in welche Gefahr wir uns brachten. Wir waren ratlos und gingen zur Schule. Das war's. Und unser fabelhafter Lehrer - Professor Griesinger, ein ehemaliger Schulleiter, der zurückgestuft worden war, weil er für die Nazis keine astreine Vergangenheit hatte - hat in der ganzen Zeit, in der er noch Lehrer war, bis 1945, auf die geschickteste Weise uns seine nie endende Empörung mitgeteilt. Er war Griechischlehrer und das lebende Beispiel eines Humanisten. Ich will damit nur sagen, dass es in dieser Zeit, bis ich 1941/42 Soldat wurde, noch möglich war, dass ein Mann Stellung bezog - und zwar so geschickt, dass er in uns die Empörung darüber wachsen ließ, ohne sich nach außen hin schuldig zu machen. Er fand Beispiele aus der Geschichte, aus der Vergangenheit, von alten Griechen ... und wir wussten genau, was gemeint war. Das werde ich diesem Mann nie vergessen.
Corti Was war, als Sie nach Hause kamen?
Loriot Ich kam nach Hause und habe eine der wenigen Ohrfeigen meines Lebens bezogen. Und zwar trat ich ins Wohnzimmer und sah, dass mein Vater am Radio saß und als ich reinkam rasch den Knopf verdrehte. Ich sagte, ahnungslos wie ich war: »Na, Vadder, horste wieder Radio London?« Und in dem Augenblick hatte ich aber schon eine gewischt gekriegt, aber wie! Ich habe es nicht recht verstanden. Mein Vater war eigentlich ein sehr gütiger und guter Pädagoge, nur wusste er, wenn ich mit dieser harmlosen Bemerkung in die Schule gekommen wäre, hätte er in große Schwierigkeiten kommen können. Das darf man nicht vergessen. Und das wirft vielleicht ein kleines Licht auf diese Zeit, die aus heutiger Sicht vielen so unbegreiflich ist.
Corti Hatten Sie eigentlich Religionsunterricht damals?
Loriot Ja.
Corti Die Nazis waren doch für Uniformen, also auch für Ornate sehr zu haben. Können Sie sich vorstellen, dass, wenn einer oder mehrere katholische oder evangelische Priester vor jeder Synagoge gestanden hätten, in denen ja verbrannt wurde, worauf deren Religionen fußten, können Sie sich vorstellen, dass da irgendeiner trotzdem weitergegangen wäre und sie angezündet, verbrannt hätte?
Loriot Ich glaube, es hätte einige Märtyrer mehr gegeben. Ich glaube aber nicht, dass sie etwas hätten ändern können, höchstens ein Zeichen setzen, das vielleicht viele nachdenklich gemacht hätte. Aber die Gewalt war so brutal, dass im Ernst nichts dagegen zu tun war aus unteren Schichten. Es hätte nur von oben kommen können, also sagen wir ein verfrühter 21. Juli - anders kann ich es mir nicht vorstellen. Sonst ist es so, wie meine Mutter immer sagte: Ich verstehe gar nicht, warum es noch Kriege gibt. Es brauchen doch nur alle Soldaten auf beiden Seiten aufzustehen und zu sagen: Wir schießen nicht mehr. Dann ist der Krieg zu Ende. Tja, nur: Das gibt es eben nicht.
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Begegnung im Prinzregententheater
Bayerischer Rundfunk, 12. November 1998
Mit August Everding
Everding Wir begegnen uns hier im Prinzregententheater, 1901 erbaut als Festspielhaus für Richard Wagner. Was sagt Ihnen Musik?
Loriot Das Erstaunliche ist, dass Musik mir mehr bedeutet als bildende Kunst, obwohl ich ja eigentlich eher Zeichner bin. Aber die Musik bewegt mich. Und was Wagner betrifft, so ist er vielleicht das große Genie des 19. Jahrhunderts.
Everding Wir sitzen vor dem Gemälde einer Frau, die Beziehung hat zu Ihrer Familie ...
Loriot Das hören wir wieder nicht so gern, weil Cosima seinerzeit meinen Namensvetter zugunsten von
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