Bitter Lemon - Thriller
Plastikperlen. In den Türen der Friseurläden und Fingernagelstudios warben Plakate für ein nächtliches Kick-Box-Spektakel am kommenden Wochenende in der Festhalle Köln-Longerich. Die abgebildeten Kämpfer, ein Dutzend mindestens, hatten seltsam blutunterlaufene Augen und fixierten stieren Blickes den imaginären Gegner. Ihre erhobenen Fäuste waren bandagiert, ihre ölglänzenden Körper tätowiert. Die Scheren eines Skorpions umklammerten die linke Brustwarze eines muskulösen Mannes namens Mahmut, den die Plakate als den Star des Abends ankündigten.
Nur der Buchmacher für Pferdewetten, die Stempel-Manufaktur und die Gaffel-Brauerei erinnerten ihn vage an das Viertel seiner Kindheit. Die Gaffel-Brauerei stand dort immerhin seit 700 Jahren, die einzige Überlebende der einst 44 Brauereien im Viertel. Als Manthey das sechste Fachgeschäft für türkische Brautmoden passierte, stellte er das Zählen ein. Das Glück eines Tages kann man kaufen, das Glück eines Lebens nicht. Ob die Juweliere auch Eheringe in Zahlung nahmen?
»David, glaub’s mir: Das Leben ist nichts weiter als ein Gärungsprozess von der Geburt bis zum Tod.«
»Zoran, wo hast du denn den Spruch schon wieder her? Den hast du dir doch nie im Leben selbst ausgedacht.«
»Aus dem Buch, das du mir geliehen hast. Der Seewolf sagt das. Könnte aber glatt von mir sein.«
In dem von der achtgleisigen Bahntrasse und zwei vierspurigen Schnellstraßen begrenzten Viertel, das einmal David Mantheys Zuhause gewesen war, hatten Glück und Elend stets eng beieinandergewohnt. Seit der Eigelstein als Teil der römischen Heerstraße entstanden war, die von Süden durch Köln nach Xanten führte. Gerber und Schmiede ließen sich entlang der Straße nieder, Brauer, Töpfer und Glasbläser, Gaukler und Gauner, Bettler und Dirnen. Im Mittelalter fand man am Eigelstein menschliche Knochen in römischen Massengräbern. Die katholische Kirche identifizierte sie auch ohne DNA-Analyse zweifelsfrei als sterbliche Überreste frühchristlicher Märtyrer, und so entstand mit der florierenden Reliquienindustrie am Eigelstein die Keimzelle der Kölner Schattenwelt.
»Guter Typ.«
»Wer?«
»Na, dieser Seewolf. Kapitän Wolf Larsen.
Der hat begriffen, worauf es ankommt im Leben.«
»Zoran, das ist eine Romanfigur. Und am Ende …«
»Das Ende fand ich übrigens ziemlich unglaubwürdig. Hast du noch mehr Bücher von diesem …«
»Jack London. Klar. Kannst du haben.«
Selbst das Stadtwappen erinnerte bis heute daran, welcher Wirtschaftszweig die Stadt einst zur größten und wichtigsten Metropole des europäischen Mittelalters wachsen ließ: Drei Kronen auf rotem Grund symbolisierten die heiligen drei Könige aus dem Morgenland, für deren im Jahr 1164 aus Mailand importierte Gebeine der Dom als angemessene Herberge gebaut wurde. Unter den drei Kronen befanden sich elf tropfenförmige Tränen auf weißem Grund. Sie erinnerten an die heilige Ursula und ihre Gefährtinnen, die nach der Rückkehr von einer Reise nach Rom im Jahr 451 beim Verlassen des Rheinschiffes von Attilas Hunnen aufgegriffen wurden, die Köln belagerten. Weil sich die elf christlichen Jungfrauen den heidnischen Söldnern verweigerten, starben sie den Märtyrertod. Und weil die Knochen der elf standhaften Jungfrauen bei Weitem nicht ausreichten, um den florierenden Handel mit Reliquien dauerhaft in Schwung zu halten, manipulierten die Kölner Händler die Legende im Lauf der Jahre marktgerecht: Aus elf Jungfrauen wurden elftausend Jungfrauen, die sich nach der Romreise den wilden Hunnen vor den Kölner Stadttoren verweigert haben sollen. So ließen sich dann auch Hühnerknochen gewinnbringend als Glücksbringer an Durchreisende und Pilger verkaufen. Die Kirchenoberen hatten nichts gegen die wundersame Jungfrauenvermehrung einzuwenden, denn an echten, vorbildlichen Jungfrauen mangelte es mitunter im moralisch wenig gefestigten mittelalterlichen Köln. Und damit die Bürger der Stadt niemals den tugendhaften Tod vergessen sollten, baute man eine Basilika zu Ehren der heiligen Ursula, die später die Pfarrkirche des Eigelstein-Viertels wurde.
»Wir werden geboren, um zu sterben, David.
Die ganze Suche nach dem Sinn des Lebens ist doch ein großer Blödsinn. Was von uns bleibt, kannst du in der Knochenkammer besichtigen.«
Die Knochenkammer. Ein magischer Ort ihrer Kindheit. Der düstere Raum in der Pfarrkirche hieß offiziell natürlich nicht Knochenkammer, sondern Goldene Kammer. Das Blattgold auf den
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