Bitter Lemon - Thriller
Beginn der Saison dort gekauft und deren fehlende Rückennummern er in der Küche über den Lagerhallen fein säuberlich mit einem schwarzen Edding aufgemalt hatte. Aber Coach Mantheys bedingungsloser Glaube hatte die beklemmende, hemmende Angst verscheucht. Jetzt kämpften auf dem Spielfeld der Turnhalle Mut, Trotz und Teamgeist auf der eigenen Seite gegen erfolgsgewohnte Sattheit und selbstherrliche Arroganz auf der gegnerischen Seite. Erst gegen Ende des vierten Viertels hatten sich die Leverkusener Nachwuchsstars von der Eigelsteiner Überrumpelung erholt und mit Mühe in die Verlängerung gerettet.
Davids Bilanz bis dahin: 21 Punkte, 8 Rebounds und ein ausgeschlagener Zahn. Zorans Bilanz: 24 Punkte, 9 Assists, 4 Steals und eine geprellte Rippe.
Vier Sekunden vor dem Ende der Verlängerung windet sich der baumlange Leverkusener Center blitzschnell und zugleich elegant wie ein Balletttänzer an dem bleifüßigen Artur vorbei, steigt zum Brett auf und stopft den Ball durch den Ring. Ein kollektiver, hysterischer Aufschrei von der Tribüne, synchron aus den Kehlen der per werkseigenem Bus kostenfrei nach Paderborn gekarrten jugendlichen Bayer-Fans. 86:84 für Leverkusen.
Eigelstein in Ballbesitz. Noch drei Sekunden auf der Uhr. Drei Sekunden, die über Sieg und Niederlage entscheiden. Wie auf dem Kasernenhof brüllt der Bayer-Coach seine Kommandos und verordnet Pressdeckung übers gesamte Feld. David steht mit dem Ball an der Grundlinie, bereit zum Einwurf. Sobald der Ball seine Hände verlassen wird, läuft die Uhr wieder, tickt nur noch dreimal. Maximal fünf Sekunden hat er Zeit für den Einwurf, so will es das Reglement. Doch niemand steht frei, niemand ist anspielbar. Auf dem Parkett kleben fünf an Körpergröße und Kraft überlegene Leverkusener an vier Eigelsteinern wie die Kletten, rauben ihnen die Luft zum Atmen. Zoran, der beste Schütze, wird von zwei Bayer-Spielern gedoppelt, keine drei Meter von David und der Grundlinie entfernt. David sieht in Zorans Augen und weiß genau, was Zoran denkt: Ein Zwei-Punkte-Erfolg aus der Nahdistanz ist in den verbleibenden drei Sekunden bei dieser starken Defense schon schwierig genug. Gleichstand und zweite Verlängerung. Aber eine weitere Verlängerung würden sie rein physisch nicht überstehen. Die einzige Rettung: ein schneller Drei-Punkte-Erfolg von jenseits der 6,25-Meter-Linie.
Riskant. Aberwitzig.
In diesem Augenblick löst sich Zoran per Körpertäuschung aus der Dopplung und sprintet übers Feld in Richtung Mittellinie davon. Sofort sind ihm zwei Leverkusener auf den Fersen. David schleudert den Ball über die Köpfe der Verfolger hinweg. Die sehen den Ball nicht kommen, weil sie keine Augen in ihren Hinterköpfen haben und darauf konzentriert sind, Zoran einzuholen. Auch Zoran sieht den Ball nicht, aber Zoran muss ihn nicht sehen, um zu wissen, dass er kommt. Tausendmal haben sie das geübt. Plötzlich stoppt Zoran mitten in der Bewegung, bleibt wie angewurzelt stehen. Die beiden überraschten Verfolger reagieren zu langsam und rasen links und rechts an ihm vorbei. Zoran wirbelt herum, und der Ball landet passgenau in seinen ausgestreckten Händen.
Der Verfolger mit der kürzesten Reaktionszeit stoppt, macht blitzschnell kehrt und baut sich mit erhobenen Armen vor dem kleinen Zoran auf, um ihm die Sicht auf den Korb zu nehmen. Noch zwei Sekunden. Eine weitere Körpertäuschung, der kleine Zoran lässt den langen Leverkusener ins Leere springen, ein kurzes, schnelles Dribbling, seitlicher Ausfallschritt, Zoran steigt auf, bevor ihn der zweite Verfolger erreicht, Zoran, noch gut acht Meter vom Ziel entfernt, drückt ab, ohne nachzudenken, mit viel Effet. Wie in Zeitlupe rotiert der Ball um die eigene Achse und in hohem Bogen durch die Halle, in perfekter Flugkurve dem Ring entgegen, die Tribüne erstarrt und verstummt, und so ist schließlich nur das schwache, dumpfe Aufbauschen zu hören, als der Ball durch das Netz rauscht, ohne den Ring auch nur berührt zu haben, und eine Zehntelsekunde später bricht das erlösende Dröhnen der Schluss-Sirene die Stille.
Mit 87:86 gewann die männliche U16-Jugend des BC Eigelstein die NRW-Landesmeisterschaft 1985. Und Zoran Jerkov hatte seinen neuen Spitznamen weg: Magic Tito. Coach Manthey hatte ihn so getauft, gleich nach Spielende in der nach Schweiß und Urin stinkenden Umkleidekabine, als sie den Korken der lauwarmen Deinhard-Flasche knallen ließen. Magic nach dem amerikanischen NBA-Star Magic Johnson. Und
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