Bitter Lemon - Thriller
Schreinen und Vitrinen interessierte David und Zoran allerdings weniger. Ihr Interesse galt vielmehr den Wänden, die meterhoch, bis unter die Schildbögen, aus Tausenden menschlicher Knochen bestanden, kunstvoll zu Ornamenten und lateinischen Sinnsprüchen geschichtet. S. Ursula pro nobis ora . Heilige Ursula, bitte für uns. Musste es nicht ora pro nobis heißen? Oberschenkel, Rippen, Becken, Wirbelsäulen, Schädeldecken, Fingerglieder. Zoran machte sich einen Spaß daraus, die Knochen mit Hilfe eines aus der Stadtbücherei geklauten Anatomiebuches zu identifizieren. Er schien die morbide Aura der Kammer zu genießen, während sie David nächtliche Albträume bereitete.
»Hier. Das ist ein Schienbein. Siehst du die Bruchstelle? Die ist wahrscheinlich von der Folter. Die haben ja damals alle gefoltert. Fass doch mal an, David. Was ist? Hast du etwa Angst?
Angst. Zoran kannte keine Angst. Oder hatte er seine Angst nur gut genug vor ihnen versteckt, wenn er zum Beispiel auf dem Spitzdach des Eigelsteintors herumturnte, das am Ende der engen Straße emporragte wie eine mächtige Burg?
In der langen Geschichte des Arme-Leute-Viertels war den Chronisten der Neuzeit lediglich der 13. September 1804 wert genug gewesen, vermerkt und niedergeschrieben zu werden: Am Abend waren der französische Revolutionskaiser Napoleon Bonaparte und seine schöne Josephine unter Glockengeläut und Kanonendonner und im Glanz unzähliger Fackeln durch das mittelalterliche Eigelsteintor gezogen, um die Stadt offiziell einzunehmen, gefeiert von tausenden jubelnden Kölnern am Straßenrand, berauscht vom Alkohol, berauscht von der neuen, verheißungsvollen Idee: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.
»So ein Quatsch.«
»Wieso Quatsch?«
»Lernt ihr diesen Blödsinn in deiner Schule? Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Glaubst du etwa, das serviert dir jemand auf dem Silbertablett? Hier, bitte schön, Glück für alle, frei Haus geliefert von Luigis Pizza-Dienst. So ein Blödsinn!«
»Zoran, die Französische Revolution war das Ende der Feudalherrschaft und der Beginn der …«
»Ist mir so was von egal, was die Französische Revolution war, David. Ich weiß nur: Freiheit muss man sich nehmen. Einfach nehmen, verstehst du? Und zwar jeder für sich alleine. Niemand schenkt sie dir, niemand hilft dir dabei. Und Gleichheit? Blödsinn. Gleichheit gibt es nicht. Nicht in diesem Leben, David.«
»Aber in einer Demokratie …«
»David, ich sag’s dir noch mal, zum Mitschreiben: Gleichheit gibt es nicht. Nirgendwo auf dieser Welt. Entweder du bist unten, so wie mein Alter zum Beispiel. Oder du bist oben. Also musst du kämpfen, um ganz nach oben zu kommen, und man muss kämpfen, damit man oben bleibt. Jeden Tag aufs Neue. Nur wenn du oben angekommen bist, dann bist du auch frei.«
»Und Brüderlichkeit, Zoran? Gibt es Brüderlichkeit auf der Welt? Wir beide, wir sind doch wie Brüder, oder?«
Zoran hatte geschwiegen. Zoran war ihm die Antwort schuldig geblieben. Sie hatten auf dem vermoosten Dach der verlassenen, ausgeweideten Fabrik gesessen, die an die Lagerhallen der Spedition seines Onkels Felix im Stavenhof grenzte. Irgendwann war Zoran aufgestanden, hatte ihn nur kurz an der Schulter berührt, gestreift, versehentlich oder absichtlich, und war wortlos gegangen. Natürlich hatten sie sich am nächsten Tag wiedergesehen. Als hätte die abrupt beendete Unterhaltung hoch oben auf dem skelettierten Backsteinbau nie stattgefunden. Aber die Antwort war ihm Zoran schuldig geblieben.
Bis heute.
Die alte Fabrik war noch immer verwaist, als wäre nur für sie die Zeit stehen geblieben, auch wenn sich auf den mannshohen, blinden Fenstern im Erdgeschoss inzwischen Graffiti-Künstler verewigt hatten. Und links neben der Fabrik, über der Toreinfahrt zum Hof, warb noch immer das Emailleschild für Felix Mantheys Spedition. Umzüge, Haushaltsauflösungen, Entrümpelungen. Die eingebrannte Farbe splitterte, das Schild hatte Sprünge und an den Rändern Rost angesetzt.
Aus dem offenen Küchenfenster der Wohnung über der Lagerhalle wehte Chet Bakers »Autumn Leaves« über das Pflaster, ohne Bass, ohne Schlagzeug, ohne Piano, nur Günthers alte Ambassador-Trompete mit dem handgefertigten, goldenen Mundstück, das David dem Lebensgefährten seines Onkels aus Washington mitgebracht und zum Geburtstag geschenkt hatte. Die Melodie entzog sich dem pulsierenden Rhythmus des Originals: langsamer, melancholischer und noch sanfter als Chet Bakers
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