Bitter Lemon - Thriller
kam so ein Kleinganove mal auf die irre Idee, aus der Schatzkammer des Doms ein goldenes Kreuz mitgehen zu lassen. Nicht irgendein Kreuz, nein, sondern das Vortragekreuz des Erzbischofs. Da hat der Propst dann um eine Audienz bei Schäfers Nas ersucht und ihn um Hilfe gebeten, weil die Polizei bei den Ermittlungen trotz der vom Bistum ausgesetzten hohen Belohnung einfach nicht weiterkam. Hein Schäfer musste nicht lange ermitteln. Er musste nur an der Theke einmal laut die Frage stellen: Wer hat den Dom beklaut? Das ging sofort wie ein Lauffeuer rum. Ein paar Tage später trug die Nas das Kreuz in einer Plastiktüte zum Propst. Die Belohnung wollte er nicht haben. Kam gar nicht in Frage. Ehrensache.«
David Manthey kannte die alten Geschichten, die zum Viertel gehörten wie der Klüttenmann oder der Alträucher. Sie erzählten von einer Welt, die längst begraben war, unter dem Beton und dem Asphalt eines Fortschritts, der Generalverkehrsplan hieß und dem Viertel per Abrissbirne, Bagger, Planierraupe und Betonmischer die Atemwege gekappt hatte.
Vielleicht war er zu jung, vielleicht auch zu lange weg gewesen, immer wieder weg gewesen, um darunter so zu leiden wie Willi Heuser, der im Eigelstein-Viertel geboren war und es nie verlassen hatte.
»Nanu. Wo ist denn die Kuchenschaufel?«
Willi kramte in der untersten Schublade des Schranks, den Rücken gebückt, ein Knie gebeugt, das steife Bein nach hinten gestreckt. David ließ den Blick durch die Küche schweifen. Nichts hatte sich hier verändert in all den Jahren. Selbst die gerahmten, inzwischen arg vergilbten Schwarz-Weiß-Fotos neben dem Kühlschrank hatte keine farbige Ergänzung erfahren. Willi als junger Boxer, Halbschwergewicht und Hoffnungsträger des BC Westen 1924 e.V. Willi als junger Polizist, die Uniform stand ihm gut. Willi und Luise nach der Trauung vor der Kirche, sie ganz in Weiß, er natürlich in Uniform. Willi und Luise bei einem Schiffsausflug auf dem Rhein, an die Reling des Sonnendecks gelehnt, im Hintergrund der Drachenfels. Ihre eintägige Hochzeitsreise. Sie im gepunkteten Kleid, er im sommerlich hellen Zweireiher, Hut mit breiter Krempe. Glücklich sahen sie aus. Und sehr verliebt. Das letzte Foto in der Reihe zeigte ein Baby, das mit fast erwachsenem Ernst in die Kamera blickte. Willis und Luises Sohn. Sie hatten ihn auf den Namen Walter getauft. Das Baby war mit sechs Monaten gestorben. Willi und Luise hatten danach kein Kind mehr bekommen.
Nur die schmale Schlafcouch neben der Eckbank war neu und wirkte in der Küche wie ein Fremdkörper.
»Die Couch ist neu, nicht wahr?«
»Ja. Ich kann nicht mehr in unserem Ehebett schlafen, seit Luise tot ist. Ich hab’s ein paar Monate lang versucht. Aber das hat mich nur traurig gemacht. Dann habe ich mir bei Ikea das Ding da gekauft. Seither schlafe ich in der Küche. Denn Platz im Schlafzimmer zu schaffen und das Ehebett in den Keller zu stellen oder auf den Sperrmüll zu werfen … das käme mir wie Verrat vor. In dem Bett ist sie gestorben. Verstehst du das?«
David nickte. Und dachte an Astrid, die auf dem nassen Asphalt eines Frankfurter Hinterhofs gestorben war.
»Manchmal setze ich mich nach Feierabend, noch vor dem Abendbrot, gleich wenn ich vom Dienst nach Hause komme, im Schlafzimmer auf die Bettkante und erzähle Luise vom Tag. Viel gibt es da zwar nicht mehr zu erzählen, seit ich mein Gnadenbrot als Kaffeeholer friste. Mensch, wer hätte das damals gedacht, als wir auf der Beerdigung deines Onkels waren, dass Luise nur vier Monate später … auf Luises Beerdigung haben wir uns das letzte Mal gesehen, stimmt’s, David?«
»Ja.«
»Meine Güte. Wie die Zeit rast.«
Willi Heuser tischte den Kuchen auf. Unwillkürlich warf David einen Blick auf die Uhr über der Küchentür.
»Ich sehe, du bist in Eile, David. Du willst wissen, warum der aufgeschlitzte Heinz Waldorf nicht auf der Liste der gefährdeten Personen stand. Willst du die offizielle Begründung, oder willst du meine private Meinung?«
»Beides, Willi.«
»Dann pass gut auf. Die offizielle Begründung lautet: Rechtsanwalt Heinz Waldorf wurde als einziger ehemaliger Prozessbeteiligter als nicht gefährdet eingestuft, weil er Zorans Verteidiger war. Auf den ersten Blick erscheint das plausibel. Denn gewöhnlich machen Verurteilte nicht ihre Verteidiger, sondern Staatsanwälte und Richter für das Urteil verantwortlich. Meinetwegen auch noch die Ermittlungsbeamten der Kripo. Oder gelegentlich auch die
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