Bitter Lemon - Thriller
einzigen Tag in seiner Firma gefehlt und erwartete von seinen Beschäftigten, dass sie das Kranksein gefälligst fürs Wochenende aufsparten. Früher, als sie noch zur Schule ging, hatte er das auch von seiner Tochter erwartet. Warum sagte sie nicht einfach die Wahrheit? Sie haben mich gefeuert, Papa!
»Aber mittags warst du doch noch zu sehen. Die Sache vor dem Gefängnis, als dieser Mörder die Flucht ergriff. Auf allen Kanälen, den ganzen Tag über. Wir haben es selbst nicht gesehen, aber Frau Braun vom Feinkostladen erzählte es deiner Mutter.«
»Da war ich noch nicht krank.«
Dieser Mörder . War Zoran Jerkov inzwischen doch ein Mörder? Seit heute? Zoran hatte Heinz Waldorf verachtet, das wusste sie besser als die Polizei. Hatte sie Zoran Jerkov aus dem Gefängnis geholfen, damit er einen Mord begehen konnte? Aus dem Nichts tauchte eine große, graue Limousine auf, wuchs in ihrem Rückspiegel, bis sie ihn vollständig ausfüllte, veranstaltete ein hysterisches Lichthupenkonzert. Kristina Gleisberg ließ sich nötigen, noch einmal die Spur zu wechseln, auf die rechte, die falsche Spur, die zu den Autobahnen nach Düsseldorf, Dortmund und Aachen führte. Der Fahrer verlangsamte kurz das Tempo, nur um Blickkontakt aufnehmen zu können, er brüllte und geiferte stumm gegen ihr Seitenfenster, gab Gas und schoss an ihr vorbei.
»Was hast du denn?«
»Was?«
»Deine Krankheit. Mutti will wissen, was du hast.«
»Eine Bronchitis.«
»Um diese Jahreszeit?«
»Um diese Jahreszeit.«
»Ich höre Fahrgeräusche … sind das Fahrgeräusche? Wo bist du denn? Bist du etwa im Auto unterwegs? Warum liegst du mit einer Bronchitis nicht im Bett und kurierst das schleunigst aus, damit du wieder zur Arbeit gehen kannst?«
»Weil ich auf dem Weg zum Arzt bin.«
»Machen die Ärzte in Köln keine Hausbesuche?«
»Nein.«
»Bei uns …«
»Ich weiß. Hier ist halt manches anders als im Sauerland. Keine Sorge. Das wird schon wieder.«
Sie spürte deutlich, wie ihrem Vater der Text ausging. Gut so. Sie schwieg, wechselte zurück auf die linke Spur Richtung Innenstadt und konzentrierte sich auf den Verkehr.
»Na dann, mein Kind …«
Er hatte nie verstanden, warum sie nach Köln gegangen war. Er würde auch niemals verstehen, warum sie diesen Beruf ergriffen hatte.
»Ja. Und schöne Grüße an Mama.«
»Zurück. Sie steht neben mir. Dann kann ich sie ja jetzt zum Glück beruhigen. Was sagst du, Hilde? Mama sagt, du sollst Fencheltee trinken. Überhaupt viel trinken. Und sie sagt, du sollst Marc ganz herzlich grüßen. Von mir übrigens auch. Wäre schön, euch beide bald mal wieder zu sehen.«
»Mach’ ich, Papa. Tschüss.«
Sie drückte die rote Taste, warf das Handy auf den Beifahrersitz und verließ die Autobahn am Süd-Verteiler. Dass Marc aus ihrem Leben verschwunden war, hatte sie ebenfalls noch nicht erzählt. Wenn ihre Eltern zudem wüssten, dass sie gefeuert und arbeitslos war, hätten sich all ihre Prophezeiungen erfüllt: Kristina Gleisberg, Unternehmertochter und Totalversagerin.
Marc. Ihre Mutter liebte Marc abgöttisch. Marc war Mutters Traum vom perfekten Schwiegersohn. Fast so perfekt wie Mutters Sohn. Kristinas jüngerer Bruder Konrad junior, der natürlich gleich nach dem Studium ins väterliche Unternehmen eingestiegen war und inzwischen die Vertriebsabteilung von Dr. Gleisberg Thermoplast leitete. Schrumpfschläuche für die Kfz-Industrie. Der natürlich längst verheiratet war. Der ihnen natürlich schon ein Enkelkind geschenkt hatte. Der natürlich gleich um die Ecke wohnte, so dass Kristinas Mutter aktiv an der Aufzucht ihres prachtvollen Enkels mitwirken konnte in dieser hübschen Kleinstadt im Sauerland, die ohne die Schrumpfschläuche des Herrn Dr. Konrad Gleisberg eine Geisterstadt wäre.
Sie musste sich entscheiden: geradeaus über die Bonner Straße in Richtung Chlodwigplatz oder rechts in Richtung Rheinuferstraße? Sie bog auf die Tankstelle am Verteiler ab, stoppte den Wagen auf dem Lkw-Parkplatz, schaltete den Motor aus, atmete tief durch und wählte schließlich Branko Jerkovs Nummer.
»Pizzeria Roma?«
»Guten Tag, Herr Jerkov. Hier ist Kristina Gleisberg. Ich müsste Sie dringend sprechen. Es geht um Zoran.«
Schweigen.
»Herr Jerkov? Sie erinnern sich doch sicher an mich. Kristina Gleisberg. Ich habe Ihren Bruder …«
»Natürlich erinnere ich mich. Zoran ist nicht hier.«
»Herr Jerkov, ich bin ganz in der Nähe. Darf ich mal eben auf einen Sprung bei Ihnen
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