Bitter Lemon - Thriller
fand, was sie suchte. Sie schrieb die Adresse ab und warf ihm den Zettel in den Schoß.
»Du solltest schleunigst verschwinden, Eliska. Es war keine gute Idee, zurück nach Köln zu kommen.«
»Ich brauche was zu trinken. Möchtest du auch was?«
Jerkov schüttelte den Kopf, während er auf den Zettel in seinem Schoß starrte, ohne ihn anzurühren.
In der Küche nahm Eliska eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank und füllte das Glas bis zum Rand. Sie trank gierig, spülte damit die Kopfschmerztablette hinunter, füllte das Glas ein zweites Mal und kehrte damit ins Wohnzimmer zu rück.
Zoran Jerkov war verschwunden.
Sie blieb mitten im Raum stehen, sie schwankte, bis ihr das Wasserglas aus der Hand glitt und zu Boden fiel. Sie starrte auf den Sessel, in dem Zoran gesessen hatte. Sie versuchte vergeblich, nachzudenken und eine Entscheidung zu treffen. Schließlich setzte sie sich auf die Couch, ganz vorn auf die Kante, als sei sie nur zu Besuch, als sei sie immer noch nicht zu Hause in dieser Wohnung, in diesem Land, in diesem Leben.
Das war die größte Strafe:
Ihr Leben war nun keinen Pfifferling mehr wert.
Wie viel Zeit blieb ihr noch?
Zoran würde Kecman niemals verraten, von wem er die Adresse bekommen hatte, und Kecman konnte nicht ahnen, dass sie die Adresse überhaupt kannte.
Aber das spielte keine Rolle. Denn seit dem Tod von Heinz Waldorf war klar, dass Kecman nun gründlich aufräumen ließ, die alten, verräterischen Spuren beseitigen ließ, und Eliska wusste nur zu gut, dass eine 34-jährige tschechische Prostituierte in seinen Augen nichts weiter als ein Haufen lästiger Müll war. Und sie wusste außerdem, dass dieser seltsame Herr, den sie vergangene Nacht besucht hatte, den sie nach seinem Anruf zunächst für einen gewöhnlichen Kunden gehalten hatte, sie nicht beschützen würde, trotz der Informationen, die sie ihm gegeben hatte. Er hatte bereits bezahlt. Für die Informationen und für alles andere.
Sie konnte auch nicht zur Polizei gehen. Was sollte sie denen sagen? Dass sie vor zwölf Jahren in einem Mordprozess einen Meineid geschworen hatte?
Heinz Waldorf hatte ihr mal erklärt, die Falschaussage als Zeugin sei längst verjährt. Aber das spielte keine Rolle. Sie hatte noch nie der Polizei vertraut. Seit Teblice.
Sie lachte bei dem Gedanken laut auf: Der Einzige, der sie nun noch hätte beschützen können, wäre Zoran gewesen.
Sie drückte die nur halb gerauchte Zigarette aus, erhob sich, ging ins Schlafzimmer, zog die beiden Koffer vom Kleiderschrank und begann zu packen. Sie war noch nicht ganz fertig damit, als die Wohnungstür eingetreten wurde.
Den Wagen ließ er am israelitischen Friedhof zurück. Er schulterte den Rucksack und ging den restlichen Weg bis zum Deutzer Hafen zu Fuß. Über die nahe Severinsbrücke rollte die Frühschicht zu den Ford-Werken. Wenn ihn jemand gefragt hätte, jemand von der Hafenmeisterei etwa oder die Patrouille der Wasserschutzpolizei, was er um halb sechs Uhr morgens auf dem Damm zu suchen hatte, so hätte er mit gespieltem, sorgsam einstudiertem Erstaunen geantwortet, er sei Vogelkundler.
Zoran Jerkov, der Vogelfreund.
Im belagerten Vukovar hatten sie oft Vögel gegessen. Und Würmer. Und Eidechsen. Und Ratten.
Am 18. November 1991 war die monatelang von der serbischen Armee belagerte kroatische Stadt gefallen. Das Datum würde er niemals vergessen. Vor dem Krieg hatten in Vukovar 38 000 Menschen gelebt. Während der Belagerung wurde die Stadt von bis zu 8000 Granaten täglich getroffen, abgefeuert von den Panzern, den Kampfflugzeugen und der schweren Artillerie einer übermächtigen serbischen Streitmacht.
Als die Serben nach dem monatelangen Dauerbombardement am 18. November 1991 in Vukovar einmarschierten, lebten noch 2000 Menschen in der Stadt. Am 20. November, zwei Tage nach dem Einmarsch, trieben serbische Soldaten die 200 Patienten des städtischen Krankenhauses ins Freie, verwundete kroatische Soldaten ebenso wie kranke oder verletzte Zivilisten. Eine Prozession in den Tod. Gleich nach der Hinrichtung auf einem nahe gelegenen Bauernhof wurden die 200 Leichen in einem Massengrab verscharrt.
An diesem Tag hatte Zoran Jerkov zum ersten Mal Milos Kecman gesehen. Jerkov hatte den Mann, dessen Namen er zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht kannte, aus nächster Nähe dabei beobachtet, wie er die Hinrichtungen befehligte. Wie er die Pistole aus dem Halfter zog, sie einem jungen Mädchen an den Kopf drückte, Lüsternheit in den
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