Bitter Lemon - Thriller
Augen, als er den Finger krümmte. Zoran Jerkov lag keine 50 Meter entfernt auf dem Dach des Heuschobers, als Milos Kecman abdrückte.
Als Jerkov sich in dem Heuschober versteckt hatte, konnte er nicht ahnen, wenig später Augenzeuge eines Massenmordes zu werden. Als er den Lärm der sich nähernden Menschen hörte, verkroch er sich blitzschnell aufs Dach. Durch den Feldstecher beobachtete er den Mann mit den lüsternen Augen und den schmalen Lippen und der blitzsauberen Uniform, die ihn als serbischen Major auswies. Zum Glück besaß Jerkov längst keinen einzigen Schuss Munition mehr. Sonst hätte er diesen serbischen Major vom Dach des Heuschobers aus erschossen und den Tag nicht überlebt. Und zum Glück hatte er einen Tag vor der Invasion das Krankenhaus trotz der schlecht heilenden Fleischwunde unter dem linken Schlüsselbein verlassen, um den Menschen mit weitaus schlimmeren Verletzungen Platz zu machen.
Zoran Jerkov prägte sich das Gesicht des namenlosen serbischen Majors ein, brannte es in sein Gehirn, suchte nach diesem Gesicht bis zum Ende des Bürgerkrieges im Jahr 1995, vergeblich, und noch zwei weitere Jahre von Dubrovnik aus, bis er 1997 aufgab und nach dem Tod seines Vaters nach Köln zurückkehrte. Niemals hätte er damit gerechnet, den serbischen Major je wiederzusehen, und erst recht nicht, Milos Kecman ausgerechnet in Köln ein zweites Mal zu begegnen. In der Nacht zum 17. Januar 1998.
Maries Geburtstag. Maries Todestag.
Jerkov setzte den olivgrünen Rucksack auf den Bruchsteinen ab und hockte sich in das verdorrte, kniehohe Gras. Im matten Licht der Dämmerung erinnerte ihn der graue, träge Strom an die Mündung der Vuka in die Donau.
Morgengrauen.
Im Krieg die beste Zeit zum Angriff.
Jerkov trank einen Schluck Kaffee aus der Thermoskanne und starrte hinüber zum Westufer. Der alte Zollhafen war in der Tat nicht mehr wiederzuerkennen. Er zog den alten Feldstecher aus dem Rucksack, presste die weichen, nach den vielen Jahren schon porösen Gummimuscheln der Okulare an seine Augen, stellte scharf, ließ das kreisrunde Sichtfenster über die Fassaden aus Stahl und Glas gleiten und dachte an sie.
Marie.
Jerkov war ihr gleich in der ersten Woche nach seiner Heimkehr begegnet. Auf Arturs Schrottplatz. Eine Kundin. Sie ließ dort ihren altersschwachen Fiat Spider reparieren. Jerkov wusste nicht, dass sie eine Prostituierte war. Er wusste es bald. Nicht von Artur. Sondern von Marie selbst. Aber da war er ihr schon mit Haut und Haaren verfallen. Und er wusste auch nicht, dass sie erst 21 war. Sechs Jahre jünger als er. Sie wirkte so erwachsen. Das Leben hatte sie sehr früh erwachsen werden lassen.
Natürlich störte ihn, womit sie ihr Geld verdiente. Aber er hätte es nicht gewagt, ihr das zu sagen. Er hatte Angst davor, alles könnte auf der Stelle vorbei sein, die Geborgenheit, die Vertrautheit, wenn er ihr sagen würde, wie sehr es ihn schmerzte, was sie tat, wenn sie nicht zusammen waren.
Sie arbeitete nicht in ihrem Apartment. Das hätte er nicht ertragen. Sie machte Hotelbesuche.
Vielleicht hätte er sie damals einfach fragen sollen: Willst du mich heira ten?
»Zoran, weißt du, warum Männer zu Prostituierten gehen?«
»Weil sie Sex haben wollen.«
»Falsch. Sex können sie auch bei anderen Frauen bekommen. Sogar kostenlos. Zumindest, solange die Männer begehrenswert sind … weil sie entweder jung und schön oder reich und mächtig sind. Nein, mein Liebster: In Wahrheit bezahlen die Männer die Prostituierten nicht für den Sex, sondern dafür, dass sie nach dem Sex jederzeit gehen dürfen. Ohne schlechtes Gewissen.«
»Aber ich gehe doch gar nicht weg von dir, Marie.«
»Du bezahlst mich ja auch nicht.«
Marie. Sie pflegte seine verwundete Seele. Sie brachte ihm bei, wieder zu leben, nach all dem Hass, und zu lieben, nach all dem Töten. In seltenen Momenten hatte er sich gestattet, davon zu träumen, dass es immer so weitergehen könnte, mit ihm und Marie. Der Traum vom ewigen Glück. Der Traum endete mit einem Anruf am Vorabend ihres Geburtstages.
Was war das?
Jerkov atmete aus und hielt schließlich die Luft an, um das Zittern des Bildes im Feldstecher zu minimieren.
Etwas, jemand, hatte sich soeben bewegt hinter der Fensterscheibe, die bis zum Fußboden reichte.
Das war nicht Kecman.
Zu groß, zu breit, zu blond.
Jerkov hatte die aufgehende Sonne im Rücken. Das hatte den Vorteil, dass er vom Westufer aus nicht gesehen werden konnte. Das hatte den Nachteil, dass
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