Bitter Lemon - Thriller
sich die ersten Sonnenstrahlen des anbrechenden Sommertages im Fensterglas spiegelten.
Kein Zweifel. Der Albino.
Der Albino verschwand.
Jerkov wartete.
Das Warten machte ihm nichts aus. Er hatte zwölf Jahre lang Zeit gehabt, das Warten zu üben.
Aber niemand ließ sich mehr am Fenster blicken, weder Kecman noch der Albino.
Jerkov beobachtete die Umgebung des Gebäudes, machte sich Notizen und dachte nach.
Nach einer Stunde stopfte er den Feldstecher, den Notizblock und die Thermoskanne zurück in den Rucksack und verließ den Damm. Es gab noch viel zu tun.
Am frühen Morgen des 17. Januar 1998 meldete sich um 03.17 Uhr eine anonyme Anruferin aus der öffentlichen Telefonzelle am Chlodwigplatz über die Notrufnummer 110 bei der Leitstelle des Kölner Polizeipräsidiums mit den beiden Sätzen: »Es ist etwas Schreckliches passiert. Marie ist tot.« Der erfahrene Beamte in der Leitstelle fragte behutsam nach, mit wem er denn spreche. Die Anruferin, nach späterer Auswertung der Bandaufnahme durch einen Gutachter eine eher jüngere Frau mit osteuropäischem, aber nicht slawischem, sondern ostromanischem Akzent, vermutlich Rumänin, nannte statt ihres Namens eine Adresse im Stadtteil Bayenthal und legte auf.
Die Leitstelle schickte einen Streifenwagen zu der Adresse und informierte die Kriminalwache.
In dem Apartment, dessen Tür zum Treppenhaus bei Ankunft der Beamten offenstand, lag auf dem Fußboden neben dem Bett die unbekleidete Leiche einer jungen Frau. Sie hatte offenbar kurz vor ihrem Tod geduscht: Das Badezimmer wirkte, als habe die Bewohnerin es vorzeitig und überhastet verlassen, und das Badetuch aus dickem, weißem Frottee, das zerknüllt neben dem Bett auf dem Fußboden lag, war noch ganz klamm.
Die Beamten fanden einen tschechischen Reisepass, der die Tote als die am 17. Januar 1976 in einem Dorf bei Teblice geborene Marie Pivonka auswies. Ein Abgleich mit dem Foto im Reisepass war nicht möglich, weil das Gesicht der Toten durch schwere Verletzungen völlig entstellt war. Die Identität wurde später mit Hilfe der tschechischen Behörden anhand des Zahnbildes der Leiche zweifelsfrei bestätigt.
Das Apartment wies eindeutige Spuren eines Kampfes auf. Ferner war die Wohnung, vermutlich vom Täter, vor oder nach dem Tod der jungen Frau durchsucht worden: Sämtliche Schubladen und Schranktüren in Bad, Küche, Diele und dem kombinierten Wohn-Schlaf-Raum standen offen, der Inhalt lag verstreut auf dem Fußboden. »Es sah aus wie auf einem Schlachtfeld«, versicherte der Leiter des Erkennungsdienstes später als Zeuge bei seiner Anhörung im Prozess. Der Gerichtsmediziner drückte sich vor Gericht weniger blumig aus und setzte seine Worte mit nüchterner Bedachtsamkeit: Marie Pivonka war vergewaltigt und gefoltert worden, bevor man sie mit einer Drahtschlinge erdrosselt hatte.
Die Ermittler gingen zunächst von einem Raubmord aus – bis um 04.19 Uhr am Tatort ein Mann erschien, der sich mit seinem Personalausweis als Zoran Jerkov ausweisen konnte, deutscher Staatsangehöriger kroatischer Abstammung, geboren 1970 im damals jugoslawischen Vukovar. Der Siebenundzwanzigjährige wirkte apathisch, wie unter Schock, und fragte ständig, wo Irina sei.
Der Mann war für die Polizei kein unbeschriebenes Blatt, wie ein erster telefonischer Abgleich seiner Personendaten mit dem Computer im Präsidium ergab. Er war im Besitz eines Schlüssels zur Wohnung. Auf die Frage, was er am Tatort zu suchen habe, antwortete er, er sei mit Marie Pivonka befreundet, und er sei gekommen, um sein Handy abzuholen, das er in ihrer Wohnung vergessen habe. Tatsächlich hatten die Beamten sein Mobiltelefon am Tatort sichergestellt.
Auf die Frage, wann genau er das Apartment der Marie Pivonka zum letzten Mal verlassen und das Handy vergessen habe, antwortete er plötzlich ausweichend, ebenso wie auf die Frage, wer denn diese von ihm genannte Person namens Irina sei und ob er es für üblich erachte, eine fremde Wohnung mitten in der Nacht zu betreten, um einen vergessenen Gegenstand abzuholen. Da Zoran Jerkov auch nicht willens war, ein Alibi für die vergangenen Stunden vorzuweisen, wurde er vorläufig festgenommen und zur weiteren Vernehmung ins Präsidium abtransportiert.
Dort erschien am nächsten Morgen gegen neun Uhr eine junge Frau namens Eliska Sedlacek, laut vorgelegtem Pass tschechische Staatsangehörige und 1976 im selben Dorf nahe Teblice geboren wie die gleichaltrige Tote. Sie berichtete, sie mache sich große
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