Bitter Lemon - Thriller
Irina?«
»Sie war keine Frau. Irina war noch ein Kind. Und Zoran war an jenem Abend, bevor er zu mir kam, dem leibhaftigen Teufel begegnet. Dem Schlächter von Vukovar.«
Die Tür zur Sakristei wurde aufgerissen, ohne dass zuvor jemand angeklopft hätte. Das Orga-Team der Motto-Party. Weder Tomislav Bralic noch Kristina Gleisberg drehten sich um.
»Herr Pfarrer? Wir warten!«
Die schneidende Stimme in ihrem Rücken ließ Kristina ahnen, dass deren Eigentümerin es gewohnt war, Befehle zu erteilen und Gehorsam einzufordern.
»Meine Damen, bitte geben Sie mir noch zwei Minuten.«
»Das darf doch wohl nicht wahr sein! Wissen Sie eigentlich, was da draußen in diesem Augenblick …«
Tomislav Bralic wirbelte auf dem Absatz herum, sein Arm schoss wie ein Pfeil nach vorne und wies zur Tür der Sakristei, während seiner Kehle ein dumpfes Grollen entfuhr, das genügt hätte, die Händler und Geldwechsler nicht nur aus dem biblischen Tempel, sondern aus ganz Jerusalem zu verjagen:
»RAUS!«
In Arturs Werkstatt fand David Manthey nach einigem Suchen, was er brauchte: ein scharfes Teppichmesser.
In Arturs Küche legte er Zorans Schreibmappe auf den Tisch, drehte und wendete und betrachtete und betastete sie von allen Seiten und begann schließlich, die Nähte des Leders an der Rückseite aufzuschneiden.
Ein kaum fingerdicker Packen Papier im DIN-A4-Format. David erkannte sofort Zorans ungelenke, fast kindliche Schrift. Sie hatte sich in 22 Jahren nicht verändert.
Kristina, bitte nimm sofort Kontakt zu David Manthey auf. Auch wenn er ein Bulle oder vielmehr Ex-Bulle ist, kann man ihm vertrauen. Er ist ein guter Mensch. Jedenfalls ein besserer Mensch, als ich es meistens war in meinem Leben. Er ist mein Freund. Frag Günther Oschatz im Stavenhof. Der weiß sicher, wo David gerade steckt. David kann dir helfen. Er hat viele Kontakte, und er hat keine Angst, und er kann dich beschützen, wenn es ernst wird. Tut mir leid, wenn ich dir mit meinem überraschenden Abgang und dem vermasselten Exklusiv-Interview für eure Live-Sendung jetzt Ärger mit deinem Boss einhandeln sollte. Aber ich habe keine andere Wahl. Es gibt Wichtigeres, was jetzt an die Öffentlichkeit gelangen muss. Und dafür brauche ich eure Hilfe. Es geht um Gerechtigkeit. Wenn du David die nun folgenden Seiten zu lesen gibst, dann wird er sich wundern und glauben, das hat niemals Zoran Jerkov formuliert. Stimmt auch zum größten Teil. Ich bin ein Dieb. Ich war schon immer ein Dieb. Wer weiß das besser als David. Diesmal habe ich Sätze gestohlen. Aus vielen Büchern und Zeitungen. Ich hatte im Knast viel Zeit, all diese Sachen zu lesen. Was gut und was wichtig war, habe ich einfach geklaut und abgeschrieben. Aber das viele Lesen hat mich auch im Schreiben geübt. Ich glaube, ich habe im Knast so viel gelernt wie in meiner ganzen Kindheit nicht. Menschen können sich ändern. Kristina, sag das bitte David: Menschen können sich ändern.
Von der nächsten Seite an wurden die Buchstaben winzig klein, und die Zeilen reichten exakt bis an die Ränder des Papiers. Offenbar war Zoran bei der Niederschrift besorgt gewesen, nicht alles unterbringen zu können, angesichts des begrenzten Platzes in dem improvisierten Geheimfach der Schreibmappe. David goss sich Kaffee aus Arturs Thermoskanne in einen Becher, setzte sich und begann, den Text zu entziffern:
Das Leid eines einzigen Menschen ist eine Tragödie. Das Leid von Millionen Menschen ist nur eine Statistik. Irinas Leben und Irinas Sterben: eine Tragödie, eine furchtbare Tragödie. Sie war erst 13 Jahre alt, als sie nicht mehr leben durfte. Irina, ich werde immer an dich denken. Und dein Leid rächen. Aber Irina ist kein Einzelschicksal. Niemals in der Menschheitsgeschichte, weder im antiken Rom noch in den USA vor dem Bürgerkrieg, gab es auf diesem Planeten mehr Sklaven als heute, im Zeitalter der Globalisierung. Derzeit leben weltweit mehr als 27 Millionen Menschen in Sklaverei – nach der Definition der Vereinten Nationen sind das Menschen, die gegen ihren Willen und gewaltsam zu einer Arbeit gezwungen werden, für die sie keine angemessene Entlohnung erhalten, sondern nur das an Bargeld oder Naturalien, was sie zum Überleben benötigen. In schöner Regelmäßigkeit registrieren die Vereinten Nationen diese Tragödie »mit tiefer Besorgnis«. Aber aus den Worten entstehen keine Taten. Und das heuchlerische Palermo-Protokoll ist nur ein Fetzen Papier. Der amerikanische Newsweek-Reporter E. Benjamin
Weitere Kostenlose Bücher