Bitter Lemon - Thriller
abgöttisch, und das mitunter nicht nur platonisch, und so manche wäre ihm bereitwillig nicht nur ins Bett, sondern bis in den Tod gefolgt. Das war dann aber doch nicht nötig: Der Staat begnügte sich damit, den jungen Rädelsführer für drei Monate ins Gefängnis zu stecken.
Nach seiner Entlassung zog Tomislav Bralic die Konsequenzen und ging in den Westen, beendete sein Studium in Bonn und wurde schließlich in Köln, seiner Ansicht nach die anarchistischste Stadt Deutschlands, zum Priester geweiht.
Die neue Heimat hatte in seinen Augen nur einen einzigen Schönheitsfehler, und das war sein Dienstherr: Joachim Kardinal Meisner. Den hatte das libertäre Rheinland nicht verdient, war Tomislav Bralic zutiefst überzeugt, denn mit Meisners Menschenbild und Demokratieverständnis hätte man durchaus auch als SED-Funktionär oder als iranischer Religionsrichter Karriere machen können. Als der Kölner Kabarettist Jürgen Becker den Kardinal als fundamentalistischen Hassprediger bezeichnete, machte Bralic zur Feier des Tages eine schöne Flasche Prosecco auf, und als der Zentralrat der Juden in Deutschland den Kölner Kardinal, der den Nazi-Begriff der Entartung für den Katholizismus neu entdeckte hatte, einen notorischen geistigen Brandstifter nannte, zündete Bralic in seiner Kirche eine Kerze an und betete.
Aber seine ketzerischen Gedanken behielt Tomislav Bralic in der Regel für sich; der Kroate hatte im Lauf seines unsteten Lebens dazugelernt und in seinem Alter keine Lust, seine Anstellung als Pfarrer von Sankt Ursula zu verlieren. Ausgerechnet Sankt Ursula, nach den drei Weisen aus dem Morgenland die wichtigste Heilige der Stadt. Ursula und ihre elftausend Jungfrauen.
Tomislav Bralic genügte es, sich heimlich über die Weltordnung des Kardinals hinwegzusetzen und zum Beispiel seinen Musikerfreund Günther Oschatz in einer menschenwürdigen, wenn auch leider nur symbolischen Zeremonie mit dessen Lebensgefährten zu vermählen, diesem netten, viel zu früh verstorbenen Menschenfreund und Spediteur Felix Manthey, der vom Staat und seinen zahlreichen Vollzugsorganen etwa genauso viel gehalten hatte wie Pfarrer Bralic.
Die heutige Trauungszeremonie, die in knapp einer Stunde beginnen würde und für die Tomislav Bralic jetzt in der Sakristei letzte Vorkehrungen traf, hatte hingegen nicht nur Gottes Segen, sondern zweifellos auch Meisners Segen: Die dreiundzwanzigjährige Tochter eines prominenten RTL-Managers würde den zweiunddreißigjährigen Sohn eines zwar weniger prominenten, dafür aber adligen Bayer-Vorstandes ehelichen. Seit Wochen nervten Tomislav Bralic die beiden Schwiegermütter in spe mit ihren Sonderwünschen, als ginge es nicht um den Vollzug eines heiligen Sakraments, sondern um die Ausrichtung einer Motto-Party, zu der das alte Gemäuer der romanischen Kirche die dekorative Kulisse bot. Angesichts seiner bisherigen traumatischen Erfahrungen mit dem zweiköpfigen Organisationskomitee verwunderte es ihn auch nicht, als jetzt, 52 Minuten vor dem Termin, an die Tür in seinem Rücken geklopft wurde, außer vielleicht der Umstand, dass überhaupt angeklopft wurde, und er rief entsprechend genervt:
»Herein!«
Tomislav Bralic hatte mit dem Schlimmsten in Gestalt eines Boten neuer Hiobsbotschaften der beiden Schwiegermütter in spe gerechnet, als es an der Tür zur Sakristei klopfte, doch der ernste Gesichtsausdruck und der entschlossene Gang der jungen Frau, die nun auf ihn zu marschierte, ließen ihn ahnen, dass er sich gründlich verrechnet hatte: Die beiden Schwiegermütter wären in diesem Augenblick zweifellos nur das Zweitschlimmste gewesen.
»Frau Gleisberg!«
»Guten Tag, Herr Bralic.«
»Schön, Sie wiederzusehen. Wie geht es Ihnen?«
»Gar nicht gut, Herr Bralic. Ich habe mein Vertrauen in die katholische Amtskirche verloren.«
»Wenn es Sie tröstet: Das habe ich schon lange verloren. Aber ich dachte bislang, Sie seien evangelisch.«
»Und ich dachte, katholische Priester dürfen nicht lügen. Sie haben mich die ganze Zeit belogen.«
Bralic bekreuzigte sich und warf einen raschen Blick nach oben, zu dem einzigen Herrn, dessen Autorität er anerkannte.
»Gott sei mein Zeuge, dass ich noch nie …«
»Lieber Herr Bralic: Verschonen Sie mich jetzt bitte mit theologischen Spitzfindigkeiten. Vielleicht ist Lüge das falsche Wort. Nennen wir es so: Sie haben große Teile der Wahrheit ausgeklammert. Mir gegenüber, aber auch der Staatsanwaltschaft gegenüber. Wenn die das erfahren,
Weitere Kostenlose Bücher