Bitter Lemon - Thriller
Skinner hat einen Test gemacht: Wenn man in der reichsten und mächtigsten Demokratie der Welt, in deren Unabhängigkeitserklärung von 1776 die Freiheit als Grundrecht festgeschrieben ist, vom Schreibtisch des UN-Generalsekretärs im New Yorker Hauptquartier der Vereinten Nationen aus startet: Wie lange benötigt man wohl, um sich einen Sklaven zu kaufen? Ergebnis des Tests: fünf Stunden. Inklusive einstündiger Fahrt mit dem Taxi von der Zentrale des Weltgewissens am Ufer des East River zum JFK Airport, inklusive dreistündigem Flug nach Haiti, dem karibischen Nachbarstaat des Touristenparadieses Dominikanische Republik auf der Columbus-Insel Hispaniola, inklusive Taxifahrt nach Cité Soleil, dem ärmsten Viertel der armen haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince. Dort musste Skinner nicht lange suchen, um einen Menschenhändler zu finden, der dem amerikanischen Reporter eine zwölfjährige Haussklavin, eine sogenannte Restavèk, verkaufte – zu einem Preis, der unter dem der New Yorker Taxifahrt lag. Gefälschte Papiere für die Einreise in die Staaten kosten natürlich extra. Sie macht alles, was du verlangst, versicherte der Händler. Hausarbeit und Sex. Sie sei sehr genügsam, brauche nicht viel zu essen, und auch kein Bett, nicht einmal eine Matratze. Sie sei es gewohnt, auf dem Fußboden zu schlafen. Eine Ecke in der Küche genüge völlig. Wohlgemerkt: Newsweek-Reporter Skinner unternahm diesen Test noch vor dem verheerenden Erdbeben. Inzwischen dürften die Preise für minderjährige haitianische Sklaven noch weiter gefallen sein.
Der Kaffee schmeckte bitter und abgestanden. David legte das Blatt Papier neben den Stapel, stand auf, füllte ein Glas mit Wasser aus dem Hahn über dem Spülbecken und trank es in einem Zug aus. Er konnte nicht fassen, dass Zoran dies geschrieben hatte, weniger wegen der flüssigen Formulierungen, für die Zoran bereits eine Erklärung abgeliefert hatte, als vielmehr wegen des Inhalts. Zoran, der sich doch nie für jemand anderes interessiert hatte als für sich selbst. Zoran Jerkov, bis zu seiner Verhaftung wegen Mordes die erste Adresse unter den Kokainhändlern Kölns, der seine Basketball-Agentur als Tarnung benutzte und die rudimentären Reste seines Gewissens damit beruhigte, nicht wie die Heroin-Pusher oder Ecstasy-Dealer unschuldige Kinder in die Sucht zu treiben, sondern ausschließlich an Erwachsene zu verkaufen, an prominente Fernsehschaffende, Künstler, Manager, Partykönige, Leute also, die alt genug und gebildet genug waren, um zu wissen, was sie zu sich nahmen, um mit Hilfe des weißen Puders der natürlichen Begrenztheit ihres Körpers, ihres Geistes, ihrer Seele zu entfliehen. Leute also, denen Zoran ohnehin nichts als Verachtung entgegenbrachte. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. So ein Quatsch, David. Glaubst du etwa, das serviert dir jemand auf dem Silbertablett? Freiheit muss man sich nehmen, David. Einfach nehmen, verstehst du? Niemand schenkt sie dir. Sklaven konnten sich ihre Freiheit nicht einfach nehmen. Aber Zoran hatte sich immer alles genommen, was er brauchte. Ohne Rücksicht auf Verluste. Und um seine Autorität zu untermauern, war ihm stets jede erdenkliche Form von Brutalität recht gewesen. Nur deshalb, nur um seine Macht selbst hinter Gittern zu demonstrieren, hatte er gleich in den ersten Knasttagen diesen serbischen Mithäftling im Duschraum getötet. Zoran, ich kenne dich. Zoran, mir machst du nichts vor. Oder doch? Wer war Irina? Was willst du mir mit deinen Recherchen sagen, Zoran?
… liegt der weltweite Jahresgewinn beim Handel mit der Ware Mensch bei mehr als 32 Milliarden US-Dollar. Damit ist der Sklavenhandel inzwischen lukrativer als der illegale Handel mit Waffen. Sklaven schürfen in Afrika nach Gold und Diamanten, Sklaven arbeiten in den besseren Vierteln amerikanischer Großstädte als Hausdiener, Sklaven schlagen in indischen Gruben Pflastersteine, die anschließend für teures Geld in deutschen Baumärkten verkauft werden. In Afrika und Asien werden Kinder aus Dörfern geraubt und zu Soldaten abgerichtet. Zu Killern. Ihre Zahl wird weltweit auf 250 000 geschätzt. Wer sich weigert, wer Mitgefühl oder Tötungshemmung zeigt, dem werden die Hände abgehackt. Weniger als die Hälfte der weltweit gehandelten Sklaven wird in die Prostitution geschickt. Allerdings macht beim grenzüberschreitenden Sklavenhandel die Zwangsprostitution den überwiegenden Teil aus. Die große Mehrheit aller Sklaven dieser Welt lebt in
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