Bitter Lemon - Thriller
hatte mir erklärt, wo ich den Koks verkaufen sollte und was ich mit dem Geld tun sollte. Tomislav hat bis heute keine Ahnung, woher das Geld stammt. Er hätte nämlich kein Drogengeld genommen. Ich habe Zoran einmal im Monat im Knast besucht, jeden ersten Donnerstag im Monat, und da hat er mir dann seine neuen Anweisungen gegeben.«
»Anweisungen. Wie damals.«
»Ja, David. Wie damals. Als ich ihn mit dem Motorrad abgeholt habe, da hat er die erste Nacht hier geschlafen, in der Mansarde, auf der Matratze, auf der du vergangene Nacht geschlafen hast. Am nächsten Morgen musste ich ihn um fünf Uhr in der Frühe wecken. Wir haben zusammen gefrühstückt, ich habe ihm das restliche Geld gegeben, die Waffen, die Munition, das Auto, das ich für ihn besorgt hatte, und weg war er. Seither habe ich ihn nicht mehr gesehen und auch nichts mehr von ihm gehört.«
Artur machte das Licht aus.
Draußen, auf dem Hof vor der Werkstatt, setzten sie sich auf eine provisorische Bank, die aus einer Holzbohle und zwei Reifenstapeln bestand. Artur drehte sich eine Zigarette.
»Soll ich dir auch eine drehen?«
David schüttelte den Kopf.
Artur rauchte und starrte in den Himmel. Als er fertiggeraucht hatte, warf er die Kippe auf den Boden und drückte sie mit dem Absatz seiner klobigen Arbeitsschuhe aus.
»Artur?«
»Ja?«
»Hast du eine Ahnung, was aus Öcal und Ilgaz geworden ist?«
»Du warst echt lange weg, David.«
»Stimmt.«
»Nach dem Jugendknast hat Öcal die Lehrstelle als Kfz-Mechaniker geschmissen. Wegen der Berufsschule. Im dritten Lehrjahr, ein halbes Jahr vor der Prüfung. Null Bock auf die Lehrer. Du kennst ihn ja. Gammelte dann eine Weile rum. Bevor er auf Ideen kommen konnte, die ihn unweigerlich wieder in den Knast befördert hätten, hat ihm dein Onkel einen Job als Hilfsarbeiter bei Ford besorgt, drüben im Hauptwerk in Niehl. Lagerarbeiter. Fuhr den ganzen Tag mit dem Gabelstapler Ersatzteile durch die Gegend. Frag mich nicht, was Coach Manthey ihm ins Ohr geflüstert hat, damit er diesmal bei der Stange blieb. Öcal hat dann irgendwann sogar geheiratet, eine Frau aus dem Heimatdorf seiner Familie. Eine Cousine oder Großcousine. Ich war übrigens eingeladen. Nicht schlecht, so eine türkische Hochzeit. Sie sind dann rüber nach Kalk gezogen. Sie konnten keine Kinder bekommen. Für Türken ist das wohl eine echte Katastrophe, sagt man. Öcal ist dann vor acht oder neun Jahren gestorben. Krebs. Bauchspeicheldrüse. Sein Hausarzt hatte ihn ins Krankenhaus geschickt, dort haben sie ihn im OP-Saal aufgemacht und gleich wieder zugemacht. Zwecklos. Zu spät. Vier Monate später war er tot. Ich war auf der Beerdigung.«
David starrte in die Nacht und sah Öcal vor sich. Klein, drahtig, schnell. Der gefürchtete Steal-König des Teams. Niemand stibitzte der angreifenden gegnerischen Mannschaft so viele Bälle wie Öcal. Die langen Finger und die schnellen Beine machte er sich auch außerhalb des Spielfeldes zunutze. In der Umkleidekabine der gegnerischen Mannschaft oder im Supermarkt, bei Zorans berüchtigten Mutproben. Und niemand konnte sich über Zorans Macho-Sprüche so schlapp lachen wie Öcal.
»Und Ilgaz?«
»Ilgaz. Den hat sein Vater noch rechtzeitig zurückgeschickt, als es hier brenzlig für ihn wurde. Sonst wäre er unweigerlich im Knast gelandet. Du wirst es nicht glauben: Ilgaz hat sich in seiner Heimat der PKK angeschlossen. Irgendwann ist er dann bei einem Feuergefecht mit der türkischen Polizei ums Leben gekommen. Lass mich überlegen: Das ist jetzt 15 Jahre her. Hast du gewusst, dass Ilgaz Kurde war? Kannst du dir ausgerechnet Ilgaz als edlen Freiheitskämpfer vorstellen?«
»Nein, Artur. Beim besten Willen nicht.«
Ilgaz, der Freiheitskämpfer. Allerdings konnte sich David ebenso wenig Öcal in der Rolle des treu sorgenden Ehemanns und braven Lagerarbeiters im Ford-Werk vorstellen. Vor allem aber konnte David sich nicht vorstellen, dass beide, Ilgaz und Öcal, schon tot waren. Als wären die vergangenen zwei Jahrzehnte im Zeitraffer vergangen. Als wäre es erst gestern gewesen, dass er mit Zoran und Artur und Ilgaz und Öcal durch die Straßen des Viertels gestreunt war. Auf der falschen Seite der Bahngleise.
Artur erhob sich von der wackligen Bank und verschwand in der Dunkelheit. Drei Minuten später kehrte er mit zwei Dosen Bier zurück. Gaffel-Kölsch aus dem Eigelstein. Eiskalt.
»Danke.«
»Leider habe ich kein Bitter Lemon im Haus.«
»Macht nichts, Artur. So ein eisgekühltes
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