Bitter Lemon - Thriller
Vorhaben abzubringen. Ich werde nicht darüber diskutieren, Tomislav, sagte er. Ich erinnere dich an deine Schweigepflicht.«
Artur erhob sich und verließ wortlos die Küche.
»Kecman hatte also etwas gegen ihn in der Hand«, sagte David mehr zu sich selbst. »Die Konsequenzen, die sie ihm androhten, falls er das vereinbarte Schweigen brechen sollte, müssen noch stärker gewesen sein als sein unbändiger Freiheitsdrang. Was bringt ausgerechnet Zoran dazu, eine lebenslange Haftstrafe in Kauf zu nehmen? Zoran hatte nie Angst um sein eigenes Leben.«
»Aber vielleicht hatte er Angst um das Leben anderer«, wandte Kristina ein. »Vielleicht wurde ein Mensch, der ihm sehr nahestand, von Kecman mit dem Tod bedroht. Vielleicht besaß Kecman ein menschliches Faustpfand.«
»Das könnten dann ja wohl nur Zorans Geschwister sein. Maja und Branko. Denn die Eltern waren da schon beide tot. Allerdings passt da was nicht zusammen, Kristina.«
»Und was?«
»Offenbar hat das Mittel der Erpressung nach zwölf Jahren urplötzlich seine Macht über Zoran verloren. Sonst hätte er nicht die Journalistin Kristina Gleisberg und den Pfarrer Tomislav Bralic ins Spiel gebracht, um seine Unschuld beweisen zu können. Also scheiden Maja oder Branko aus.«
Kristina und Bralic nickten. Eine Weile saßen sie schweigend da und hingen ihren Gedanken nach.
»Als Priester stehen mir kriminelle Gedankenspiele vielleicht nicht gut zu Gesicht, aber … wenn das ursprüngliche Mittel der Erpressung wirkungslos geworden war: Warum hat sich Kecman nicht schnell eine neue Erpressung ausgedacht, indem er Zorans Geschwister bedrohte?«
Das Kreischen einer elektrischen Säge drang aus der Werkstatt in die Küche und ging Kristina durch Mark und Bein. Um sich besser konzentrieren zu können, dachte sie laut weiter:
»Ein Schachspiel. Ich kann mir nicht helfen, aber das Ganze erinnert mich an ein perfides Schachspiel. Die Gegner: Zoran Jerkov und Milos Kecman. Zoran hat übrigens viel Schach gespielt im Gefängnis. Das weiß ich von Dr. Gründel, dem Rheinbacher JVA-Psychiater. Ein Schachspieler versucht immer, durch einen geschickten Zug die aktive Rolle zu übernehmen, einen Schritt voraus zu sein, so dass der Gegner nur noch ohnmächtig reagieren statt clever agieren kann. Milos Kecman lässt Zorans Geliebte ermorden und verurteilt ihn auch noch zum Stillschweigen … auf welche Weise auch immer. Zoran ist zunächst hoffnungslos im Hintertreffen. Aber im Knast hat er viel Zeit zum Nachdenken. Und zum Recherchieren. Nach zwölf Jahren wird plötzlich und vermutlich auch für ihn überraschend das Mittel der Erpressung stumpf. Aber Zoran prescht nicht einfach los, nein, er plant die nächsten Züge sorgfältig, bevor er den Knast verlässt.«
»Und wir alle sind seine Schachfiguren.«
»Nicht nur wir. Auch die Polizei und die Medien. Zorans entscheidende Frage lautete: Wie holt er zum entscheidenden Schlag aus, ohne dass Kecman rechtzeitig eine neue Erpressung improvisieren kann? Auch deshalb hat Zoran dieses telegene Medienspektakel vor dem Gefängnistor inszeniert, inklusive des Racheschwurs und der spektakulären Flucht per Motorrad. Denn nun ist die Meute heiß, die Fotografen und Kamerateams belagern rund um die Uhr die Familie Jerkov, und garantiert observiert auch die Polizei die Geschwister diskret, in der Hoffnung, Zoran lässt sich irgendwann bei ihnen blicken. Dass Branko und Maja in den vergangenen zwölf Jahren keine Gelegenheit ausließen, um sich öffentlich von Zoran zu distanzieren, war ebenfalls ein fein abgestimmtes Spiel der Geschwister Jerkov zum Schutz der Familie. Da gehe ich jede Wette ein, David.«
»Schach. Weiß gegen Schwarz. Das Gute gegen das Böse. Zoran in einer völlig neuen Rolle. Aber da hat sich Zoran schon wieder verkalkuliert. Denn Kecman lässt Waldorf und Eliska als lästige, gefährliche Mitwisser ermorden und bringt Zoran damit erneut in die Bredouille: Denn jetzt jagen die Polizei und die Medien Zoran als Mordverdächtigen.«
»Wenn ich dazu etwas sagen darf …« Tomislav Bralic hob den Finger, zaghaft wie ein Schuljunge. »Ich glaube, Zoran ist dieser Rummel nur recht. Er will Öffentlichkeit um jeden Preis. Er macht auf mich den Eindruck, als hätte er nichts mehr zu verlieren, als hätte er mit seinem eigenen Leben längst abgeschlossen. Er ist bereit, jedes Risiko einzugehen. Denn sein einziges Lebensziel ist seine Rache, die er Gerechtigkeit nennt.«
Kristina klopfte mit ihrem Kugelschreiber
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