Bittere Delikatessen
ist hüllenlos. Ich scheine zu fließen und überzulaufen, als ob mich nichts zusammenhält. Oder ich verlasse meinen Körper und stehe neben mir. Ich beobachte Nora Fabian und frage mich, was das alles für einen Sinn hat. Einmal saß ich in einem Restaurant und hatte plötzlich den Geschmack am Essen verloren. Ich blickte auf die Leute draußen, sie schienen glücklich zu sein. Das Leben war hinter der Glasscheibe. Und ich saß da, schmeckte nichts, fühlte nichts und hatte furchtbare Angst, ich könnte niemals mehr etwas fühlen. Das kann niemand verstehen.«
Etwas an ihren Worten hatte Ben schockiert. »Vielleicht hat das mit Ihrer Kindheit zu tun.«
»Alles hat mit unserer Kindheit zu tun. Ist es nicht so? Meine Analytikerin nennt es posttraumatische Belastungsstörung. Wir arbeiten daran. Ich mache Fortschritte, sagt sie. Vielleicht sind es aber auch nur die Pillen, die sie mir gibt.«
Nein, sie würde nicht gestehen, dachte Ben. Sie war keine Mörderin, ihr Streit hatte nichts mit der Tat zu tun. Ein Gefühl – sicher war Ben sich nicht. Sein Interesse an ihr war durch ihre Worte jedoch nicht geringer geworden. »Was für ein Mensch war Ihr Stiefvater?«
»Damals war er gut aussehend, noch nicht so fett. Für seine Familie war er ein Held, er war erfolgreich und beliebt. Natürlich nicht so attraktiv wie Sie.«
Ben tat, als habe er das Letzte überhört. »Woher kam es, dass Sie sich nicht verstanden?«
Sie legte eine Hand auf seinen Mund und erklärte damit ihre Beichte für beendet. »Nicht jetzt. Nicht heute Abend.« Ihre Hand glitt auf seine Brust. »Sie sind groß und stark. Sie stehen mit beiden Beinen fest auf der Erde. Seien Sie froh, dass Sie nicht meine Probleme haben.«
»Sie kennen mich nicht.«
»Sie strahlen so viel Sicherheit aus. Warum hängen Sie am Leben?«
»Weil es schön sein kann. Zumindest manchmal.«
»Wenn ich Sie ansehe, könnte ich es fast glauben.«
»Tun Sie's einfach. Vergessen Sie Ihren Stiefvater. Vergessen Sie den Schnaps.«
Ungläubig lachend rückte sie näher und legte ihre Arme auf seine Schultern. Ihr Gesicht kam ganz nah. »Verrat mir, wer du bist!«
»Benedikt Engel, Kriminaloberkommissar, 34 Jahre alt.« Er spürte ihren Atem, ihre Wärme und ihre Nervosität.
»Nein, wer bist du wirklich?«
So genau hatte Ben es selbst noch nie wissen wollen. Er schob die letzten Bedenken zur Seite, umfasste ihre Taille und zitierte einen Film: »Ich bin nur ein alter Großstadtcowboy, der versucht, nicht aus dem Sattel zu fallen.«
»Ich bin schwer rumzukriegen, Cowboy, aber du brauchst nur zu pfeifen.« Auch das klang in seinen Ohren wie ein Filmzitat.
Sie drückte sich gegen seinen Körper. Ben spürte ihre Zähne an seinem Hals, dann ihre Zunge an seinem Ohr. Mörderin oder nicht, verrückt oder nur ein bisschen – egal. Ihm gefiel, wie sie sich ranschmiss.
»Hältst du mich immer noch für verdächtig?«, flüsterte sie.
»Nur ein bisschen.«
»Wenn du den Täter gefunden hast, wirst du wissen, dass du mich zu Unrecht beschuldigt hast.«
»Vielleicht lerne ich bis dahin pfeifen.«
»Lügner, du kannst es schon jetzt.«
Ben zog ihren Kopf heran. Ihre Lippen waren weich wie heiße Schokolade. Ohne zu zögern, begann ihre Zunge zu arbeiten. Ben fühlte sich, als wäre er ein Komparse in einer Filmszene, einem Schauspiel. Aber es machte Spaß.
Er liebte gute Filme.
16.
Auf dem Parkplatz der Festung tauschte Ben den Dienstwagen gegen seinen privaten Golf. Er kurbelte das Fenster herunter und genoss die warme Abendluft, als er den Weg zum Hafen einschlug. Die Sonne hatte die Farbe einer Orange und ließ sich Zeit auf ihrem Weg zum Horizont. Davon, dass laut Kalender die Tage bereits wieder kürzer wurden, war nichts zu merken.
Ein paar Stufen führten hinunter in das Lokal. Ben gefiel das Notorious wegen seiner italienischen Küche und wegen der Musik. Zudem war der Jazzschuppen am Rheinhafen jetzt fast leer, die Luft angenehm frei von Zigarettenqualm. Es würde so bleiben. An einem Abend wie diesem drängten die Leute in die Biergärten oder auf den heimischen Balkon.
Ben bestellte Spaghetti Vongole und ein Mineralwasser. George, der Schwarze hinterm Tresen, nickte ihm zu und legte Pop auf. Tomorrow's Girls von Donald Fagen.
Ben hatte die CD zu Hause, er kannte den Text. Es ging um eine Invasion außerirdischer Frauen. Sie suchten auf der Erde Spaß. They're on a party run. Eine heitere Musik, die zum Sommer passte, doch in Bens Brust machte
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