Bittere Delikatessen
sich kribbelndes Unbehagen breit. Er konnte nicht aufhören, an Nora zu denken.
Lord help the lonely guys hooked by so hungry eyes, klang es aus den Boxen. Nora Fabian war keine Außerirdische, aber man konnte sie für eine Mörderin halten. Als er sich das letzte Mal mit einer Kriminellen eingelassen hatte, wäre er um ein Haar aus dem Polizeidienst geflogen.
Anita, die Kellnerin, brachte das Wasser. Sie trug wie immer ihr eng anliegendes, graues Cat-Suit, die Uniform für die weiblichen Angestellten des Hauses. Ben dachte an Noras Worte. Meine Kindheit war die Hölle. Alles hat mit unserer Kindheit zu tun.
Das Kribbeln in Bens Brust nahm zu, Erinnerungen meldeten sich. Bilder aus seiner Kindheit. Er versuchte sie wegzuwischen, doch sie kamen wieder. Manche Bilder bleiben im Hirn kleben wie Kaugummi. Meist sind es die hässlichsten.
Alex Vogel kam gerade recht. Er stürmte ins Lokal und setzte sich neben Ben. »Fünfmal Clara Schumann, Alter!«, rief Vogel außer Atem.
»Vergiss es.«
»Wieso?«
»Nora konnte Heinz Fabian nicht ausstehen. Er war ihr Stiefvater, der zweite Mann ihrer Mutter. Mehr ist an der Story nicht dran, tut mir leid. Keine schmutzigen Details. Und sie hat ein Alibi.«
»Wer? Ach was! Ich hab was Neues, viel Heißeres!«
»Wenn's heiß ist, wird's teuer, Alex. Ich weiß nicht, ob Fünfhundert dann reichen.«
»Prego.« Anita stellte einen Teller dampfender Nudeln auf den Tisch. Ihr Einteiler lag hauteng an und hatte ein großes Dekolleté. Auch das trug dazu bei, dass es Ben im Notorious so gut gefiel.
Vogel klopfte nervös mit der flachen Hand auf den Tisch. »Dazu ist jetzt keine Zeit, Ben. Wir müssen los.«
Ben begann, eine Strähne Spaghetti aufzuwickeln. Danach schaufelte er in aller Ruhe Sauce und Muschelfleisch über das Nudelknäuel auf seiner Gabel.
Vogel trommelte mit beiden Händen. »Nichts da, du schuldest mir einen Gefallen. Jetzt!«
Ben schob die Portion genüsslich in den Mund. »Ich schulde dir gar nichts«, sagte er mit vollem Mund.
Vogel ignorierte den Einwand und packte Bens Handgelenk. »Wir müssen los! Um halb elf ist absoluter Redaktionsschluss!«
Es war gerade erst halb neun.
»Erzähl erst mal, was los ist!«
Vogel beugte sich vor und erklärte seinen Plan – ein sensationeller Aufmacher für die morgige Ausgabe des Blitz. Eigentlich hatte er eine Titelgeschichte über die Fabian als Hauptverdächtige bereits fertiggestellt: ein gekonntes Gemisch aus Tatsachen, Gerüchten und Spekulationen – Vogels Spezialität. Doch jetzt habe er etwas weitaus Besseres, sagte der Reporter und klopfte auf seine Uhr: vorausgesetzt, sie machten sich unverzüglich auf den Weg.
Ben begriff, und die Pasta auf seinem Teller wurde kalt. Es ging um eine andere Frau aus der selben Fernsehserie. Und um ein Delikt, das gar nicht in Bens Zuständigkeitsbereich lag. Aber Vogel brauchte Ben. Und Ben konnte die Kohle gebrauchen. Ein Drecksgeschäft, eins wie viele zuvor. Höchstens eine Spur gemeiner.
Zehn Minuten später brachen sie auf. Ben war nicht wohl dabei. Er spürte, wie das Adrenalin seine Nerven kitzelte.
Immerhin hatte er Vogel auf einmal Gebrüder Grimm hochgehandelt.
17.
Währenddessen kam Tom fast das Kotzen.
Es war anscheinend unvermeidlich, aber er hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt. Für den Alten schien es der Höhepunkt jeder geselligen Runde zu sein.
»Trinken wir auf Michael! Er wäre jetzt bestimmt schon Kriminalhauptkommissar.«
Mutter hatte Tränen in den Augen. Der Alte erhob sein Glas. Auch das noch.
»Auf Michael Swoboda, er war ein guter Sohn und Ehemann, ein großartiger Vater und ein vorbildlicher Polizist. Michael, wenn du uns jetzt, dort droben, hören kannst, so rufe ich dir zu: Michael, in unseren Herzen lebst du weiter. Wir sind stolz auf dich.« Der Alte hatte seiner Zunge bereits eine gewisse Schwere angetrunken.
Es war immer das Gleiche. Weihnachten, Ostern, an einem einfachen Grillabend wie heute, sogar auf Toms letztem Geburtstag durfte die Lobeshymne auf den großen Bruder nicht fehlen. Sie stießen mit ihren Biergläsern an: Vater, Mutter, Michaels Witwe Marianne, Gabi und Tom. Vor fast zwei Jahren war Michael bei einer Bergtour tödlich verunglückt. Tom hatte damals nicht trauern können. Die beiden Brüder waren sich immer fremd geblieben. Zu groß war der Altersunterschied. Zu oft hatte Vater ihm den Älteren als Vorbild gepredigt.
Mutter weinte, Marianne nahm sie in den Arm und heulte mit. Seit damals
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