Bittere Mandeln
wahrscheinlichste Art des vorzeitigen Ablebens.
»Nein. Sie ist die Gartentreppe in unserem Landhaus heruntergefallen. Ich erinnere mich noch, wie der Notarztwagen sie abgeholt hat. Alle redeten von jiko, einem ›Unfall‹. Ich glaubte damals, man könnte das wieder in Ordnung bringen, so, wie wenn ich mit meinem Fahrrad in den Graben fuhr oder mir die Finger mit einer Ikebana-Schere verletzte. Ich habe erst begriffen, daß sie tot ist, als Sakura es mir erklärt hat.«
»War das Verhältnis zu Sakura so eng, daß sie bei Ihrer Familie gewohnt hat?«
»Nur ein paar Monate lang, unmittelbar nach dem Unfall. Sie hat in meinem Zimmer oder in dem von Natsumi geschlafen, für den Fall, daß wir Alpträume hatten.«
Warum erzählte er mir das? Wollte er mir sagen, daß zwischen Sakura und seinem Vater nichts gewesen war? Sakuras Betreuung der Kinder hatte ihr möglicherweise geholfen, in der Kayama-Schule schneller nach oben zu kommen, aber davon erwähnte ich lieber nichts, denn Takeo wirkte ziemlich traurig.
»Die Geschichte mit Ihrer Familie ist sehr interessant«, sagte ich und schob das yakitori von seinem Holzspieß.
Takeo runzelte die Stirn. Ich konnte förmlich zusehen, wie Gewitterwolken herannahten. »Warum? Haben Sie jetzt einen anderen Eindruck von mir?«
»Ja.« Takeos Offenheit hatte mich überrascht. Nun konnte ich seine Unbeholfenheit im Umgang mit Menschen verstehen, denn schließlich hatte er seine Mutter verloren und danach nur Sakura als Ersatz gehabt. Trotzdem machte mich seine Bekanntschaft mit Che argwöhnisch. Vermutlich war jetzt der richtige Zeitpunkt, ihn darauf anzusprechen. Ich räusperte mich und sagte: »Allerdings würde mich auch interessieren, was Sie mit Che Fujisawa zu schaffen haben.«
»Mit dem Umweltschützer im Salsa Salsa? Wir unterhalten uns von Zeit zu Zeit.« Takeo zuckte nicht einmal mit der Wimper, als er das sagte.
»Halten Sie das nicht für einen Interessenskonflikt?« fragte ich. »Er und seine Gruppe sind leidenschaftliche Gegner der Schule. Und Sie als ihr Erbe sitzen naturgemäß auf der anderen Seite.«
»Ich möchte, daß unsere Schule gut läuft.« Takeo pulte eine Sojabohne aus ihrer Schote. »Aber ich möchte auch etwas für die Gesundheit der Arbeiter und für die Umwelt tun.«
Ich dachte über meine eigenen gemischten Gefühle in bezug auf die Stop-Killing-Flowers-Gruppe nach. »Können Sie die beiden Seiten denn miteinander vereinbaren?«
»Sie meinen, indem ich gewaltfreie Blumen züchte?« fragte er in sarkastischem Ton. »Auf dem MAC-Lippenstift in Ihrer Handtasche steht, daß keine Tierversuche dafür gemacht wurden. Er kommt aus Kanada, stimmt’s? Ich weiß, daß die Leute in Ihrem Land solche Produkte gern kaufen. Das ist hier auch nicht anders.«
»Sie haben sich den Inhalt meiner Handtasche aber genau angeschaut«, sagte ich, ziemlich verärgert.
Er lachte. »Keine Sorge, ich habe den Lippenstift nicht benutzt. Im übrigen finde ich, daß die Kosmetikindustrie ganz schön clever ist, wenn sie Sachen propagiert, die jungen Leuten wichtig sind. Schützt die Augen kleiner Häschen vor gefährlichen Chemikalien, schützt Kühe davor, auf den Tellern der Menschen zu landen … das geht alles Hand in Hand.«
Wir schwiegen eine Weile, während die Kellnerin eine zweite Flasche Bier brachte. Mir war gar nicht aufgefallen, daß wir die erste bereits geleert hatten.
Als sie weg war, nahm Takeo den Gesprächsfaden wieder auf. »Ich habe doch vorhin die Nicotiana erwähnt.«
»Ja, die Tabakspflanze.« Ich nippte an dem frischen Bier, das er mir mit derselben gekonnten Bewegung eingeschenkt hatte wie vorhin.
»Ich habe sie in meinem Garten auf dem Land angepflanzt. Sie wächst dort ohne Pestizide und braucht kaum Wasser. Das ist wirklich eine phantastische Pflanze. Ich baue noch mehr dieser ganz gewöhnlichen Pflanzen an – in Japan heimische Gräser, Wildblumen und welche, die die meisten Leute als Unkraut bezeichnen würden. Sie lassen sich wunderbar für Ikebana verwenden.«
»Wie lautet noch mal der Slogan Ihrer Schule – ›Wahrheit in der Natur‹ oder so ähnlich?« Ich konnte nicht genau übersetzen, was auf der ersten Seite meines auf japanisch verfaßten Ikebana-Lehrbuchs stand.
»Genau. Meiner Meinung nach wäre die Hinwendung zum Umweltgedanken eine Möglichkeit, die Wahrheit in der Natur auszudrücken, aber mein Vater sieht das anders. Er sagt, wenn wir aufhören, importierte Blumen und Pflanzen aus dem Gewächshaus zu verwenden,
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