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Bitterer Nachgeschmack - Anthologie

Bitterer Nachgeschmack - Anthologie

Titel: Bitterer Nachgeschmack - Anthologie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Senghaas , Iny Lorentz
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Dreischritttanz schritten sie durch den Raum und die Berührung seiner Finger löste kleine Hitzeschauer in ihr aus. Ach, mochte doch der Tanz niemals enden!
    Der Traum verblasste jäh und die Gefangene blickte sich blinzelnd in der Zelle um, die Lichter waren erloschen. Sie sank auf die Schlafstatt und weinte.
    In den folgenden Wochen flüchtete sie immer, wenn sie glaubte, die Enge der Kammer nicht länger ertragen zu können, in ihre Fantasien. Manchmal gab sie dann eine ihrer feinen Gesellschaften. Auf dem Tisch standen Platten mit köstlichen Speisen. Roter Wein schimmerte in den Kristallgläsern und sie lauschte dem neuesten Tratsch ihrer Freundinnen, während sich der Diener nach den Wünschen seiner Herrin erkundigte. Auch ihr Gatte Theodor leistete ihnen zuweilen Gesellschaft, machte Sophie Komplimente und ließ sie beim Kartenspielen gewinnen. Armer, guter Theodor.
    Aber sie wäre nicht Sophie Charlotte, wenn sie sich nicht stets erneut zur Ordnung rufen würde. Die Fantastereien taten ihr nicht gut. Sollten die Leute etwa über sie munkeln, sie hätte im Gefängnis den Verstand verloren? Nein, diese Blöße würde sie sich nicht geben. Wenn sie um ein paar kleine Vergünstigungen in dieser unseligen Festung bitten wollte, musste sie dem Gefängniswärter und dem Hauswart der Vogtei angemessen gegenübertreten. Also schminkte und frisierte sie sich ganz wie früher und hielt die Zelle in Ordnung. Nur wenn die Nacht anbrach und sich der Schlaf nicht einstellen wollte, gönnte sie sich einen ihrer Tagträume. Das Erwachen jedoch traf sie jedes Mal mit all seiner Härte, dann wurde ihre Sehnsucht nach einem Gespräch unter Freunden oder der liebevollen Berührung von Ragay übermächtig in ihr.
    Die Jahre gingen dahin. Der Hauswart der Vogtei hatte es sich, nachdem er erst gemerkt hatte, wie zugänglich und hungrig nach dem Leben sie war, zur lieben Gewohnheit werden lassen, jede Woche einen vergnüglichen Plausch mit ihr zu führen. Dabei sprachen sie ebenso über die neuesten Ereignisse in Politik und Gesellschaft wie von der letzten Ernte. Ein guter Mann war er, wenn auch nicht sonderlich gebildet, was er jedoch mit seiner Hilfsbereitschaft reichlich wettmachte. Wie gut, ihn um sich zu wissen, auf diese Weise konnte sie ihren Geist wach halten und am Leben außerhalb der Festungsmauern teilhaben. Sophies Haare bekamen allmählich silbrige Strähnen und wurden schließlich schlohweiß. Aus der vornehmen Dame in den besten Jahren war eine alte Frau geworden.
    F ESTUNG G LATZ , 20. M ÄRZ 1833
    Auf dem Schreibtisch lag ein Stapel Bücher, daneben befand sich ein gläserner Kerzenleuchter, ein Hauch Luxus, der ihr in den 30 Jahren gewährt worden war.
    Doch Sophie wollte nicht klagen, anderen Arrestanten in der Festung erging es weitaus schlechter, denn sie durften keinen Besuch empfangen und mussten, in schwere Ketten gelegt, täglich hart arbeiten.
    Der Riegel an der Zellentür wurde zurückgeschoben und ein gutmütiges Männergesicht erschien. »Einen schönen guten Tag, Frau Geheimrat.«
    Sophie Ursinus stand an dem schießschartenartigen Fenster und sah hinaus auf die liebliche Landschaft, die sich unterhalb der Festung erstreckte, weit entfernt vom geschäftigen Berlin, in dem sie einst zu Hause gewesen war. Sie drehte sich um und musterte den Mann, der zu ihr in die Zelle trat. Es war der Hauswart der Vogtei, der sie mit dem ›Kolibri‹, der ›Teutonia‹ und anderen Zeitschriften versorgte und ihr auch sonst manche Vergünstigung hatte zukommen lassen. Jede Art geistiger Beschäftigung war ihr gestattet worden. Sogar eine junge Frau, Martha, die ihr von Zeit zu Zeit Gesellschaft leistete, war ihr bewilligt worden.
    Er wies auf einen Stuhl. »Vielleicht möchten Sie sich lieber setzen, Frau Ursinus.«
    Sie tat, wie ihr geheißen. Gespannt forschte sie in seinen Zügen, aber sie strahlten dieselbe Gelassenheit aus wie stets.
    »Es gibt wundervolle Neuigkeiten, Frau Geheimrätin. Sie sollen begnadigt werden. Stellen Sie sich nur vor, Ihre Haft ist bald beendet.«
    Schwindel erfasste sie und einen Moment lang meinte sie, von der Kante des einfachen Stuhles zu rutschen. »Begnadigt?«
    Der Hauswart lächelte freundlich. »Es heißt, schon in zwei Wochen können Sie die Festung verlassen.«
    Im mehrere Tagesreisen entfernten Berlin hatten sich die verantwortlichen Herren nach gründlichem Überlegen dafür ausgesprochen, die seit 30 Jahren Einsitzende zu entlassen. Schließlich war Sophie Ursinus fast 73

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