Bitterer Nachgeschmack - Anthologie
Jahre alt und - wie aus der Kommandantur Glatz gemeldet wurde - bereits vor längerer Zeit erkrankt. Da erschien es wie ein Akt der Gnade, die alte Frau in die Freiheit zu entlassen. Mit einer Einschränkung allerdings: Sie durfte die Stadt nicht verlassen. Doch das kümmerte Sophie Ursinus wenig. Kaum auf freiem Fuß, mietete sie sogleich eine Wohnung, ließ diese einrichten und empfing schon bald Gäste, die es sich nicht nehmen ließen, zum Kaffee oder zu einer Abendgesellschaft der Geheimrätin zu erscheinen. Dass man sie hinter vorgehaltener Hand als ›die Giftmischerin‹ bezeichnete, störte Sophie Ursinus nicht. Sollten die Leute reden, was sie wollten. Die letzten ihr verbliebenen Jahre wollte sie wie gewohnt, in Wohlstand und unter ihresgleichen, verbringen. Immerhin besaß sie noch gut 40.000 Taler, davon ließ es sich in einer Kleinstadt wie Glatz vorzüglich leben.
Ein halbes Jahr nach ihrer Entlassung lud sie wieder einmal zu einer Abendgesellschaft ein. Mittlerweile hatte sie sich einen Platz in der besseren Gesellschaft der kleinen Stadt an der Neiße erobert, nicht zuletzt durch verschiedene finanzielle Zuwendungen an Institute und Anstalten, die sich schnell herumsprachen. Auch mit der Frau des Festungskommandanten stand sie in Kontakt und spielte mit ihr sowie anderen Damen regelmäßig Karten.
Diese betraten an einem Spätsommerabend das Speisezimmer ihrer Gastgeberin. »Setzen Sie sich, meine Damen«, bat Sophie. Martha, ihre bisherige Gesellschafterin, die sie inzwischen als Dienerin eingestellt hatte, trug das Geschirr herein. Es folgte ein Tablett mit einer Karaffe Sherry als Aperitif und vier Gläsern. Martha schenkte ein und verschwand wieder in der Küche, aus der das köstliche Aroma eines guten Bratenstückes drang.
Frau Ursinus hob ihr Glas und prostete den anderen zu. »Ich danke Ihnen, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind, meine Damen.«
»Wir danken Ihnen , Frau Geheimrat.«
Dann wurde das Essen aufgetragen, begleitet von den Ahs und Ohs der Gäste. Aber als Martha eine Schüssel mit grünem Salat auf den Tisch stellte, zuckte eine der Frauen zusammen. Auf den Blättern lagen unübersehbar einige Zuckerkörner. Sophie Ursinus konnte sich ein spöttisches Lächeln nicht verkneifen. »Seien Sie unbesorgt, meine Liebe - es ist kein Arsenik.«
G LATZ , 30. M ÄRZ 1836
»Wie geht es meiner Patientin heute?«, wollte der Arzt wissen und trat an Sophie Ursinus' Bett. Der Mediziner beugte sich über sie, öffnete drei Knöpfe ihres Nachthemdes und hielt das trichterförmige Ende eines Stethoskops gegen die knochige Brust.
»Schlägt es noch kräftig, Herr Doktor? Der Pfarrer macht mir bald jeden Tag seine Aufwartung. Er will mich unbedingt vor der Hölle bewahren.«
»Ach, Frau Geheimrat.« Seufzend ließ der Arzt sich auf dem Stuhl nieder, nahm einen Schreibblock aus der Tasche und machte sich ein paar Notizen über den Zustand der Kranken. »Ob Sie wirklich getan haben, was man Ihnen vorwirft, das wissen nur unser Herrgott und Sie allein. Für mich aber sind Sie auch eine Wohltäterin.«
Sophie Ursinus schloss die Augen. Der Doktor hatte recht. Wie schon in Berlin, war sie auch in dieser Stadt, in die das Schicksal sie vor über 30 Jahren verschlagen hatte, überaus geachtet und das, obwohl vielen bekannt war, warum sie in der Festung eingesessen hatte. In den letzten Jahren hatten sich nur wenige gute Freunde getraut, sie auf die damaligen Begebenheiten anzusprechen, litt sie doch selbst nach all den Jahren noch immer unter dem Verlust der geliebten Verflossenen. Sophie hatte jedes Mal gebeten, dieses leidige Thema ruhen zu lassen, zu schwer lagen ihr die Ereignisse auf der Seele. Sie lächelte leicht und vergaß für einen Moment ihre Gebrechen. Bald war es so weit und ihr Lebensweg beendet. Und sowie man ihren Leib in die dunkle Erde bettete, würde die Wahrheit auf ewig ihr Geheimnis bleiben.
Sophie Ursinus starb am 4. April 1836. Ein stiller Frieden soll ihre Züge verklärt haben. An einem eisig kalten Morgen, drei Tage später, wurde sie beerdigt. Ihre sterblichen Überreste lagen in einem prächtigen Eichensarg. Sie trug ein Häubchen mit einem blassblauen Band auf dem frisierten Kopf, einen weißen Überrock und ebensolche Handschuhe. Auf ihrer Brust ruhte ein Gemälde ihres verflossenen Gemahls, ganz so, wie sie es ein Jahr zuvor angeordnet hatte. Sophie sah aus, als ob sie nur schliefe, und nur ein Windzug würde genügen, um sie wieder zum Leben zu erwecken.
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