Bitterer Nachgeschmack - Anthologie
zerzaust aussah. Maria hatte es in Wien einmal scherzhaft ›Rabennest‹ genannt. Gersdorf wusste, dass er in seiner zerknitterten Aufmachung keine gute Figur machte. Die Etikette gebot, einen Gasthof aufzusuchen, sich zu waschen, zu rasieren und dann ein Billet zu schicken, bevor er seiner Zukünftigen unter die Augen trat. Doch er war der Meinung, dass Marias Brief ihm das Recht gab, auf derlei Oberflächlichkeit zu verzichten und sich sogleich nach ihr zu erkundigen.
Ein paar Minuten vergingen, bis Gersdorf von der Hausmagd, einem wunderschönen Geschöpf mit heller, milchweißer Haut, grünen Augen und rotem Haar, das in verspielten Locken unter dem steifen Spitzenhäubchen hervorquoll, in einen Salon geführt wurde. Gersdorf kannte den Raum aus Marias Erzählungen und war angenehm überrascht, wie detailgetreu sie ihn beschrieben hatte. Allerdings bot der Salon an diesem Abend ein Bild des Jammers. Die bodenlangen samtenen Vorhänge waren zugezogen, alle Spiegel mit dunklen Tüchern zugehängt worden. Die Zeiger der barocken Uhr auf dem Kaminsims standen still; nach altem Brauch hatte man sie angehalten. Außerdem waren von den Bediensteten zusätzliche Teppiche herbeigeschafft worden, die das Geräusch seiner Schritte auf dem Parkett verschluckten. Doch wenigstens war es nicht kalt, im Kamin brannte ein Feuer und in einem Winkel gab es eine ausreichende Menge an Brennholz. Als Gersdorf näher trat, entdeckte er auf der Chaiselongue einen hageren Mann mit wirren, grauen Haaren, dessen lange Nase spitz wie eine Degenklinge aus seinem blassen Gesicht hervorstach. Er trug einen schäbigen Morgenmantel und hatte ein Glas Wein vor sich stehen. Gersdorf fiel es schwer, in der ausgemergelten Gestalt den munteren Apotheker Carl Gottlieb Taborius wiederzuerkennen, der ihn in Wien mit zahlreichen Schwänken und lustigen Geschichten aus seiner Studienzeit in Göttingen und Prag unterhalten hatte.
»Ich dachte, Maria hätte Ihnen geschrieben, Herr von Gersdorf«, sagte der alte Mann statt einer Begrüßung. In seiner Miene lag Kummer. »Sie möchte Sie nicht mehr heiraten. Was suchen Sie also hier?«
»Das ist Unsinn!«, platzte Gersdorf ungestüm heraus. »Verzeihen Sie, Herr Apotheker, ich möchte mich keinesfalls im Ton vergreifen, aber ich liebe Maria. Und ich bin überzeugt, dass sie mich auch liebt. Ich spreche Ihnen mein Beileid zum Tod Ihrer Frau und Ihres Sohnes aus. Es ist schrecklich, dass die beiden so kurz nacheinander aus dem Leben gerissen wurden. Aber das hat nichts mit Maria zu tun. Sie hat den beiden doch nichts getan.«
Der Mann auf der Chaiselongue hob die Augenbrauen und schaute Gersdorf durchdringend an. »Das habe ich auch nie behauptet, junger Mann. Das Mädchen ist alles, was mir noch geblieben ist. Sie und mein jüngster Sohn, Valentin. Aber der kann doch noch gar nicht begreifen, was geschehen ist.« Der Apotheker musterte Gersdorf erneut, wobei seine matten Augen aufblitzten. Für einen kurzen Moment erinnerten sie Gersdorf an den Mann, mit dem er in Wien ganze Nächte lang über medizinische und pharmakologische Probleme diskutiert hatte. Er wusste, dass Taborius in seiner Jugend zur See gefahren war und als Naturforscher fast die ganze Welt bereist hatte, um Samen von Pflanzen sowie Insekten aller Art zu sammeln. Taborius stand nun auf und wankte mit unsicheren Schritten auf den jungen Medizinstudenten zu, um ihm seine Hand auf die Schulter zu legen. »Wenn Sie Maria lieben, Herr von Gersdorf, dann bringen Sie sie fort von hier! Steigen Sie gleich morgen in die Kutsche und fahren Sie nach Wien zurück. Dort hat Ihr Onkel doch großen Einfluss, nicht wahr? Bei Hofe wird es niemand wagen, Maria mit Schmutz zu bewerfen.«
»Franz?«
Gersdorf und der Apotheker drehten sich zum Eingang des Salons um, wo ein junges Mädchen in einem aufregenden schwarzen Kleid aufgetaucht war. Wegen der dicken Teppiche hatte keiner der beiden Männer sie kommen gehört. Es war Maria, Taborius' Nichte.
Gersdorf verschlug es bei ihrem Anblick die Sprache. Trotz ihrer Blässe und der geröteten Augen sah sie wunderschön aus. Sie hielt sich bemerkenswert aufrecht und ließ trotz ihres Kummers ein gehöriges Maß an Anmut und Tapferkeit erkennen. Um den Hals trug sie ein samtenes Band, an dem ein Anhänger aus Elfenbein hing. Gersdorf kannte ihn. Er selbst hatte Maria das Schmuckstück zur Verlobung geschenkt, als sie an einem trüben Regentag durch die Parkanlagen von Schönbrunn spaziert waren, und sein Herz
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