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Bitterer Nachgeschmack - Anthologie

Bitterer Nachgeschmack - Anthologie

Titel: Bitterer Nachgeschmack - Anthologie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Senghaas , Iny Lorentz
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Worten war die Grauhaarige regelrecht zusammengezuckt. Kein Zweifel: Der Schreck über das Geschehen steckte der Ärmsten tief in den Knochen.
    »Wo liegt denn die arme Kreatur?« Dorothea raffte den Rock. So schrecklich das alles war, musste sie dem Bösen endlich offen ins Auge sehen und außerdem Hubertus trösten. Noch ehe die Schöninger antworten konnte, stürmte sie zur Tür, wandte sich auf dem Flur gleich nach links zur Treppe, um auf schnellstem Weg in den Südflügel des Schlosses zu gelangen.
    Die Kammern der Zwerge, die der Herzog von polnisch-litauischen oder masowischen Händlern und mitunter sogar von wilden Tartarenstämmen zu beziehen pflegte, befanden sich in einem Halbgeschoss direkt unter dem Dach. Kaum ein Normalwüchsiger konnte in dem Mezzanin aufrecht stehen, weshalb sich die Winzlinge dort fernab des höfischen Lebens eine ganz eigene Zuflucht geschaffen hatten.
    Nur wenige Bedienstete begegneten Dorothea auf dem Weg nach oben. Im Weiterlaufen stieß ihr der Gedanke an die heimelige Zwergenzuflucht unter dem Dachgeschoss bitter auf. Wie es aussah, erwies sich ausgerechnet dieser Rückzugsort als der reinste Albtraum für die Kleinwüchsigen, war dort doch gerade der Dritte von ihnen elendig zugrunde gegangen. Bangen Herzens erreichte die junge Herzogin die weit vom Frauenzimmer entfernt liegenden Gemächer.
    Nach den nahezu menschenleeren Fluren und Treppenaufgängen erwartete sie in den niedrigen Stuben ein unüberschaubares Gewusel. Der halbe Hofstaat schien sich dort versammelt zu haben. Hochrangige und niedere, alte und junge, große und kleinere Hofbedienstete drängten sich unter der niedrigen hellen Holzdecke. Die Luft war schlecht, eine Mischung aus Schweiß, Lavendel- und Rosenöl sowie abgestandenem Essen und Staub erschwerte das Luftholen. Das aber schien die wenigsten zu stören. Aufgeregt tuschelten sie miteinander, versuchten, sich in der Schilderung des grausigen Geschehens gegenseitig zu übertreffen.
    Niemand achtete darauf, wer die Gemächer betrat. Erst als sich die Schöninger, die Dorothea dicht gefolgt war, vernehmlich räusperte, verstummten die aufgebrachten Stimmen. Die meisten schauten erschrocken, als sie die Herzogin gewahrten, traten verlegen beiseite. Huldvoll schritt Dorothea an ihnen vorbei. Am Ende der Gasse, die man ihr bereitete, erspähte sie die noch verbliebenen drei Zwerge. Eng umschlungen kauerten sie in einer Ecke nahe beim Fenster. Der Anblick der zitternden Winzlinge rührte Dorothea. In wenigen Schritten war sie bei ihnen, bückte sich und strich ihrem Liebling Hubertus zärtlich über den Kopf. Auch die beiden anderen Zwerge bedachte sie mit einem sachten Handauflegen und raunte ihnen zu: »Habt keine Angst. Alles wird gut.«
    »Nichts wird gut!« Mit einem Satz sprang Hubertus auf und stellte sich breitbeinig vor sie hin. Von der schwungvollen Bewegung klingelten die an seinem gelb-rotgestreiften Gewand angebrachten Glöckchen. Die langen Zipfel seiner Gugel rutschten ihm vors Gesicht. Mit einer energischen Kopfbewegung schüttelte er sie nach hinten. Die kurzen Arme vor der rundlichen Brust verschränkt, blinzelte er böse zu ihr empor. »Drei von uns sind schon hin. Bis Ende der Woche seid Ihr uns alle los. Meint Ihr etwa das, wenn Ihr sagt: ›Alles wird gut‹?«
    »Hubertus, Lieber«, setzte sie an und suchte eindringlich seinen Blick. Unruhig bewegten sich seine gelbbraunen Augen zwischen ihr und den anderen im Raum hin und her. Dorothea wusste, wie unbehaglich er sich in Gegenwart der vielen Hofleute fühlte. Erst, als er die Schöninger entdeckte, atmete er auf. Auch die anderen beiden Zwerge wirkten durch das Auftauchen der Hofmeisterin weniger verzweifelt. Zwar gab sie sich stets streng, aber immer sehr fürsorglich im Umgang mit den Kleinwüchsigen. Gerade in den letzten Tagen war Dorothea das aufgefallen. Ein kleines Wunder, denn in den ersten Wochen, die die Hofmeisterin in ihren Diensten stand, hatte es zunächst ganz und gar nicht danach ausgesehen, als würde sie mit den Zwergen unter einem Dach leben können. Regelrecht angewidert hatte sie seinerzeit auf Hubertus' fröhliche Streiche reagiert, niemals aber genauer erklärt, warum der rote Lockenschopf sie störte. Zum Glück war das Vergangenheit. Die Hofmeisterin litt mehr als andere unter den schrecklichen Todesfällen der Winzlinge.
    »Wir sind über den Tod eurer Freunde ebenso verzweifelt wie ihr. Sieh dir nur meine liebe Schöninger an.« Dorothea richtete sich auf, winkte

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