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Bitterer Nachgeschmack - Anthologie

Bitterer Nachgeschmack - Anthologie

Titel: Bitterer Nachgeschmack - Anthologie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Senghaas , Iny Lorentz
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Näharbeiten gebeugt. Wie von der Hofmeisterin befohlen, traute sich keine von ihnen, unaufgefordert den Kopf zu heben und zur Herzogin zu spähen. Auch die Kammermägde hielten sich nahezu unsichtbar in den entferntesten Ecken des Saales. Am großen Ofen beaufsichtigten zwei von ihnen einen der Knechte, wie er die Kacheln polierte, während eine Dritte die Kissen auf den Sitzbänken aufschüttelte und eine Vierte den reich geschnitzten Tresor sorgfältig abstaubte. Dorotheas Blick wanderte weiter zur Fensternische an der zweiten Längswand. Sie war leer. Es dauerte, bis Dorothea klar wurde, was das hieß: Hubertus fehlte! Erschrocken stieß sie die Hofmeisterin beiseite, lief einige Schritte in die Mitte des vom goldenen Frühlingslicht reich gefluteten Raumes hinein, drehte sich einmal um die eigenen Achse und rief: »Wo steckt er?«
    Noch ehe ihr jemand antworten konnte, lief sie zum Fenster, schaute hinter die schweren roten Samtvorhänge, eilte zum Eichentresor, schob die Magd fort und riss die Türen weit auf. Noch während ihre Augen Fach für Fach des Schrankes absuchten, ihre Hände ungeduldig die Laken aus feinstem weißen Leinen durchwühlten und die edel schimmernden Tischtücher aus Damast durchblätterten, ahnte sie bereits, auch dort nicht die geringste Spur des gelenkigen Zwerges zu entdecken. Liebte der kaum mehr als anderthalb kulmische Ellen große Bursche auch sonst das Versteckspiel abgöttisch, um ihr zu beweisen, wie leicht er sich trotz seiner zwanzig Jahre kleiner als die dreijährige Prinzessin Anna Sophie zusammenfalten konnte, so dämmerte ihr in diesem Moment, dass ihm seit dem Tod des zweiten Kleinwüchsigen am Vorabend das Scherzen fürs Erste gründlich vergangen war. Hatte die Schöninger gerade eben nicht von einem dritten Toten gesprochen? Sie griff sich an den Hals, meinte, ersticken zu müssen, so deutlich sah sie auf einmal den rotgelockten, krummbeinigen Hubertus mit den leuchtenden Sommersprossen auf dem Vollmondgesicht vor sich, wie er sich in ähnlich fürchterlichen Krämpfen wand wie die beiden anderen Zwerge. Ihr Gemahl, Herzog Albrecht, würde außer sich sein, wenn er erfuhr, dass der dritte Zwerg elendig zugrunde gegangen war. Nein, nicht einfach nur der dritte Zwerg, sondern Dorotheas Lieblingszwerg! Sie stieß einen spitzen Schrei aus.
    »Das ist kein Spiel, Hubertus!« Schrill hallte die Stimme der Schöninger durch das Frauenzimmer. »Zeig dich auf der Stelle! Oder muss ich mir erst eine Strafe überlegen? Fortan wirst du keine Latwerge mehr bekommen. Auch der Rheinwein vor dem Abendessen ist gestrichen.«
    So schnell es ihr möglich war, rannte die Hofmeisterin quer durch das Gemach und begann nun ihrerseits, in sämtlichen Ecken und Winkeln nach dem Zwerg zu suchen. Sie riss die Kissen von den Bänken, bückte sich, um unter die Schränke zu spähen, öffnete gar den schweren Deckel der Eichenholztruhe und lugte hinein.
    »Auf, auf!«, herrschte sie die Hoffräulein an. »Legt das Nähzeug beiseite und sucht mit. Irgendwo muss der unselige Bursche ja stecken.«
    Die Missgunst dieser Worte überhörte Dorothea. Eine zu große Freude ergriff sie. Gleich lief sie zur Schöninger und rüttelte sie am Arm. »Hubertus ist also wohlauf? Gott sei Dank!«
    Der Kloß in ihrem langen, schlanken Hals löste sich. Es gelang ihr sogar ein Lächeln, wenn sie auch ahnte, wie rasch sich die Erleichterung angesichts des grausigen Geschehens im Schloss wieder verflüchtigen würde. »Sagt endlich, was genau geschehen ist.«
    »Die Zwerge, also, wieder hat es einen ...« Von Neuem brach der Schöninger die Stimme. Sie wich Dorotheas Blick aus, senkte das Antlitz. Dieses Mal jedoch blieb Dorothea gelassen. Noch immer hallte die Erleichterung in ihr nach, Hubertus weiterhin gesund, wenn auch bestimmt weniger munter in seiner Kammer zu wissen. Behutsam versuchte sie, der Schöninger auf die Sprünge zu helfen. »Erneut ist also einer der Zwerge gestorben. Wieder auf die gleiche furchtbare Art wie die anderen beiden? Habt Ihr nach Doktor Wilde geschickt? Vielleicht hätte er noch etwas bewirken können. Lasst Wundarzt Hornberger aus der Schmiedegasse rufen. Nachdem er gestern zufällig mit angesehen hat, wie der zweite arme Winzling gestorben ist, kann er uns womöglich helfen, endlich die näheren Umstände zu klären. Der dritte Zwerg binnen zweier Tage ist tot. Nie und nimmer geht das noch mit rechten Dingen zu.«
    Nachdenklich betrachtete sie die Hofmeisterin. Unter ihren letzten

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