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Bitterer Nachgeschmack - Anthologie

Bitterer Nachgeschmack - Anthologie

Titel: Bitterer Nachgeschmack - Anthologie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Senghaas , Iny Lorentz
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im Gleichgewicht zu halten. Dorothea zögerte. Nur zu gern würde sie darauf verzichten, den wesentlich kleineren Nebenraum zu betreten. Zu offensichtlich wehte ihr von dort der Odem des grausamen Todeskampfes entgegen, den auch der dritte Zwerg ausgefochten haben musste. Zugleich aber wusste sie, dass sie es Hubertus wie auch den anderen Kleinwüchsigen schuldig war, dem Ärmsten die letzte Ehre zu erweisen. Tief holte sie Luft, dann ging sie so aufrecht wie möglich an dem dicken Arzt vorbei. Die niedrige, schlichte weiße Holzdecke des Zwischengeschosses war ihr nie zuvor so bedrohlich nah über dem Kopf geschwebt. Fast meinte sie, die Perlen ihrer bestickten, schräg auf dem Kopf sitzenden Haube schrammten daran vorbei.
    Das kurze, schmale Bett, in dem der tote Winzling lag, befand sich der Tür genau gegenüber. Die Betten der fünf anderen Zwerge reihten sich dicht darum herum. Nicht zum ersten Mal schien es Dorothea, als gehörten sie zu einer Puppenstube, so zierlich wirkten sie. Trotzdem musste sie sich tief hinunterbeugen, wollte sie dem Aufgebahrten noch einmal über die blonden Locken streichen. Das aufgedunsene, fahlgraue Antlitz erschreckte sie zutiefst. Sie hatte mit Üblem gerechnet, dennoch überstieg dieser Anblick die ärgsten Befürchtungen. Tränen stiegen ihr in die Augen, während sie sich zwang, Haltung zu bewahren und die von ihr erwartete Geste auszuführen. Ihre Hand zitterte, als sie dem Toten sacht über den Kopf strich.
    »Wie die beiden anderen hat auch er tapfer gekämpft«, hörte sie nah an ihrem Ohr die Stimme des Arztes. »Mit Erbrechen und Atemnot hat es in der Nacht begonnen, heftige Krämpfe folgten, wie Hubertus mir berichtete. Daraufhin hat er ...«
    »Danke, ich kann es mir vorstellen«, unterbrach Dorothea den Arzt und ging zum Fenster, öffnete es. Nach drei, vier tiefen Atemzügen und einem ratlosen Blinzeln in die grelle Maisonne drehte sie sich wieder zum Medicus um. Hubertus und die beiden anderen Zwerge drückten sich in der Tür herum, streng bewacht von der Schöninger. Die Hofmeisterin erweckte den Eindruck, jedem höchstpersönlich an die Kehle zu springen, der sich den drei kleinen Männern zu nähern wagte.
    »Ist es das Essen?«, fragte Dorothea. »Glaubt Ihr, die Zwerge vertragen nicht, was unsere Köche auftischen? Immerhin kommen sie aus fernen Landen.«
    »Das habe ich zunächst auch vermutet.« Doktor Wilde warf noch einmal einen gründlichen Blick auf den starr daliegenden Toten, der in dem winzigen Bett wie eine aufgebahrte Puppe wirkte. »Allerdings hätte es sie dann alle zeitgleich dahingerafft und nicht einen nach dem anderen.«
    »Was aber kann es sonst sein?« Voller Angst sah sie zwischen dem Bett und dem Medicus hin und her.
    Täuschte sie sich oder klebten dem Toten die blonden Locken schweißnass auf der Stirn? Sofort stieg eine düstere Erinnerung in ihr auf. Ihr wurde noch heißer. Sie nestelte an ihrem Halskragen. Die Höllenqualen, die sie im letzten September am eigenen Leib durchlitten hatte, standen ihr plötzlich wieder lebhaft vor Augen. Einem Wunder war es zu verdanken, dass sie die Seuche überlebt hatte, während mehr als ein Dutzend ihrer engsten Hofleute dem tückischen Fieber zum Opfer gefallen waren. Dabei hatten sie noch versucht, dem Schlimmsten durch einen überstürzten Aufbruch nach Fischhausen zu entrinnen. Sie schürzte die Lippen, setzte mehrmals an, bevor es ihr gelang, die Frage laut auszusprechen: »Kommt der Englische Schweiß zurück?«
    Der beleibte Arzt fuhr herum. Seine hellen Augen weit aufgerissen, das bartlose Gesicht dunkelrot vor Anstrengung, schien er selbst von großer Furcht besessen. Er brauchte viel zu lang, bis er sich so weit gefasst hatte, dass er den Kopf verneinend schütteln und sich zu einem halbherzigen »Ich glaube nicht« durchringen konnte.
    »Keiner der drei Zwerge ist am Englischen Schweiß oder an einer ähnlichen Pest gestorben.« Die dunkel dröhnende Stimme von Wundarzt Nickel Hornberger kündigte sein Auftauchen an, noch bevor die zierliche Gestalt mit dem auffälligen kupferbraunen Haar und dem eckigen Bart in der Schlafstube aufgetaucht war. Verwundert drehten sich Dorothea, der Hofmedicus wie auch die Schöninger nebst den Winzlingen um.
    Ohne groß auf sie zu achten, zwängte sich der Wundarzt behände an ihnen vorbei zum Bett, ließ sich darauf nieder und untersuchte den Toten ausgiebig. Er hob die Augenlider, öffnete noch einmal den bereits mit einem Leinentuch unter dem Kinn

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