Bitteres Blut
an. Ich war ja noch nie richtig weg. Zwei Mal Mallorca, ansonsten immer nur Neustadt. Neustadt! Wir hatten da oben einen Wohnwagen wie ’ne Schuhschachtel so groß. Das Schlimme ist, dass man sich damit zufrieden gab.«
Steinbrecher leerte sein Glas. Es war das vierte. Gegessen hatte er nicht. Ein halbes Dutzend Zigaretten geraucht und sich gleich dreimal dafür entschuldigt, dass er Lorinser mit seiner Einladung auf ein Bier auf den Wecker gegangen war. Den Grund dafür hatte er nicht genannt. Vielleicht wollte er sich bei dem Neuen nur ausweinen.
Aus dem Bier war dann Wein bei »da Claudio« geworden, einem gut besuchten Italiener in der Steinstraße, der neben den obligatorischen Pizzen eine Reihe ganz ordentlicher Gerichte und Weine auf der Karte hatte. Dunkles Gebälk, Gipsputz, diffuse Beleuchtung und die Kerzen auf den Tischen schufen mit der Flut der schmalzigen Musik aus den versteckten Lautsprechern eine geradezu heimelige Atmosphäre. Gemischtes Publikum. Viele junge Leute, deren Stimmen wie Meeresbrandung zu ihnen aufs Podest rauschten. Am Kopfende des großen Tisches tauschten die Haare zweier Mädchen Zärtlichkeiten aus. Paula jedoch, die lockere und außerordentlich hübsche Plaudertasche, mit der Lorinser einen Teil der letzten Nacht verbracht hatte, war nicht zu sehen. Er wusste allerdings auch nicht mehr, ob er sich mit ihr verabredet hatte.
»Wie bist du denn mit ihr zurechtgekommen?«
»Mit der Hildebrandt?« Lorinser zündete sich eine Zigarette an. »Ganz gut, denke ich. Ich habe auch nur den Kerl gespielt, dermit düsterem Blick und verschränkten Armen an der Wand lehnt.« Er hob die Hände, verdrehte die Augen und machte das brave Hündchen. »Das Bürschchen, ein kleiner, muskulöser Macho, hat sich trotzdem nicht weichkochen lassen. Das war wie beim Squash: platsch, platsch, die Bälle voll gegen die Wand, aber kein Fleckchen Lack platzte ab.«
»So ist das. So bleibt das auch. Bis du dich eines Tages dabei erwischst, wie scheißegal es dir ist, ob so einer auspackt oder nicht. Was dich wirklich interessiert, ist, dass du den Aktendeckel zumachen und auf die linke Seite schieben kannst. Rechts stapeln sich ja schon die neuen Fälle. Ich habe siebzehn auf dem Schreibtisch liegen. Fingerabdrücke, Fußspuren, verschissene Unterhosen und verrotzte Taschentücher. Und zu Hause verhängst du den Spiegel, weil du das Sackgesicht darin nicht mehr ertragen kannst.« Er winkte der vorübergehenden Kellnerin, deutete auf sein Glas. »Bitte noch so einen!«, rief er ihr zu, wandte sich wieder an Lorinser und senkte die Stimme zu einem rauen Flüstern. »Du fühlst dich wie in einer Wartehalle. Nur weißt du nicht, auf was du wartest. Du hast kein Ziel mehr, das ist es. Kein Ziel, verstehste?«
Die räsonierenden Worte erinnerten Lorinser an seinen Vater, an jene Bilder, die ihn als düstere Silhouette in der lichtlosen Wohnung vor seinem Platz am Küchenfenster zeigten. Offiziell hieß das Stromsparen, tatsächlich war es die Kulisse seiner immer schlimmer werdenden Depressionen. Den Kopf in die Hände gestützt, die Augen blicklos in den einst heiß geliebten, jetzt aber verwilderten Garten gerichtet und die sowieso dünnen Lippen zu scharfen Klingen zusammengepresst. Das Gesicht war ihm wie ein in Granit gehauener Seufzer erschienen, leblos, erloschen, eine Mondlandschaft seiner vom wuchernden Krebs zerfressenen Träume. Ein Schatten seiner selbst, nicht nur eingehüllt in den Kokon seines Schmerzes, sondern zum Tyrannen verwandelt, der alles um ihn her mit geradezu fanatischer Kritik zu ersticken versuchte. Bis er klaglos an den Folgen seines unheilbaren Leidens gestorben war. Hinterlassen hatte er einen in der Bibel vergessenen Zettel: »Du jagst dein ganzes Leben deinen Träumen nach, erschöpfst dich, um dann zu erfahren, dass du ein Nichts bist. Ein Nichts im Nichts, nur deshalb noch wahrgenommen, weil dir der Mut zur Tat verloren gegangen ist und die Wäscheleine um den Hals wahrhaftig zu würdelos wäre. Die Wahrheit ist …«
Ja was?, hatte Lorinser sich wegen der abrupt abgebrochenen Aussage immer wieder gefragt. Getrieben von einer nie gekannten Neugierde hatte er nach dem Rest des Satzes gefahndet, als läge in ihm der Schlüssel zum Verständnis dieses Mannes, der ihm schon als Kind fremd geworden war. Er hatte den Kalender des Vaters wieder und wieder durchgeblättert, die Bibel, die spärlichen schriftlichen persönlichen Unterlagen durchsucht, war auf Urkunden, längst
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