Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bitteres Blut

Bitteres Blut

Titel: Bitteres Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Voss
Vom Netzwerk:
niemals enden, für ihre Ewigkeit gebaut haben.« Seine bis dahin kraftvolle Stimme wurde leise. »Man sagt, das Geheimnis der Erlösung ist die Erinnerung. Das mag in einem höheren Sinne zutreffen. Wenn man verzeihen kann. Für mich gilt das nicht, für mich war und ist das dauernde Erinnertwerden die Hölle.«
    Die der unvollendeten Rache, fügte Lorinser in Gedanken hinzu.
    »Warum sind Sie hier geblieben?«
    »Weil ich noch immer hoffe, Scham in ihren Gesichtern zu sehen.«
    »Viele von denen, die Sie meinen, dürften inzwischen verstorben sein.«
    »Einige hat der Teufel geholt, einige haben sich umgebracht, aber alle sind in Ehren begraben worden. Von denen, die zwar die Anzüge gewechselt haben, aber nach wie vor in ihrem Geist und von den damals zusammengerafften Vermögen leben.« Ein dünnes, zynisches Lächeln. »Kann ja sein, dass ich für den einen oder anderen doch das schlechte Gewissen bin.«
    »Wie die Stele am Deich, nicht wahr?«
    »Wie die Stele am Deich, junger Mann, die ihnen ein Dorn im Fleische ist, die sie aber nicht beseitigen können, weil sie auf meinem Grundstück steht.« Er kicherte und rieb sich wie ein Kind in unverhohlener Schadenfreude die Hände. Ähnlich hatte er sich wohl gefühlt, als er nach Jahren mit bangen Gefühlen, aber auch triumphierend mit den Alliierten in die Gemeinde zurückkehrte.
    »Glauben Sie mal nicht, dass da Heulen und Zähneklappern war. Mich haben sie, wenn auch hinter vorgehaltener Hand, Verräter genannt! Kein Wort der Entschuldigung, keine Reue! Nur vor den polnischen Soldaten, die hier einquartiert waren, krochen sie wie geprügelte Hunde. Rückgratlose Kreaturen, die ihre Mäntelchen schon wieder in den Wind hängten.«
    Die Stele sei aufgetaucht, als man Schutt für die Ausbesserung der alten Bundesstraße benötigte. »Sie wollten sie klammheimlich verschwinden lassen«, erzählte der alte Mann. »Aber ich habe ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Einige Wochen stand sie für jeden sichtbar mitten im Ort auf einem Hänger. Ein Stein des Anstoßes. Hoffte ich. Nur nahm niemand Anstoß. Sie waren empört, dass der Vaterlandsverräter diese Provokation wagte. Im Dezember 1946, wenige Tage vor Weihnachten, versenkten sie die Stele in der Hunte. Ich habe sie herausfischen und dort aufstellen lassen, wo sie immer noch steht.«
    »Hat es nie den Versuch einer Einigung gegeben?«
    »O doch! Irgendwann Mitte der Fünfziger. Sie boten mir einen Platz in der Nähe des Amtshofs an. Dazu eine lächerliche Plakette, auf der die Verdienste meines Vaters aufgelistet sein sollten. Aber nicht ein Wort über das Unrecht, dass sie uns angetan haben. Hätte ich mich darauf einlassen können? – Nein, niemals«, gab er mit schneidender Stimme selbst die Antwort. »Sie haben ja nur ihren Frieden gemeint, nicht den der Opfer. Verstehen Sie?«
    Lorinser nickte. »Sie haben vorhin diesen sehr schönen Satz vom Geheimnis der Erlösung gesagt …«
    »Der nur dann Gültigkeit hat, wenn das Erinnern auch eine Sache der Täter ist. Aber sie wollen sich nicht erinnern, sie rechtfertigen ihr Verhalten und verkehren ihre Untaten zu Zwangsläufigkeiten. Daraus, junger Mann, werde ich sie nicht entlassen. Nicht solange noch Atem in mir ist.« Er nickte mehrmals, drehte sich abrupt um und ging auf das mit einem Stacheldrahtverhau verrammelte Tor zu.
    »Noch eine Frage, Herr Böse!«
    Der alte Mann blieb stehen und drehte sich um. In seinem Gesicht zuckte es.
    »Warum ist Ihr Bruder nicht auch vor den Nazis geflüchtet?«
    »Was glauben Sie denn?«
    »Scheinbar hatte er nichts vor ihnen zu befürchten.«
    »So ist es.«
    »Wieso nicht?«
    Böses magere Gestalt schien von Krämpfen geschüttelt. Er presste beide Hände gegen seinen Magen, krümmte sich und stöhnte laut auf. »Wieso nicht?« Seine Stimme war nichts weiter als ein heftiges Gurgeln. »Das kann ich Ihnen ganz genau sagen: Er blieb hier, weil er Blut von ihrem Blute war.« Er drehte ab und schloss das Tor auf. Wenig später rollte sein Wagen in den trostlosen Hof.
    Wie sehr ihn der Fall beherrschte, stellte Lorinser fest, als er den »Jägerhof« betrat und sich beim Anblick des weißhaarigen Mannes, der ihm entgegenkam, fragte, ob der wohl zu der johlenden Horde gehört hatte, welche Karl-Hermann Böses Ehrenmal verunglimpft und aus der Verankerung gerissen hatte. Mehr erschreckt als freundlich erwiderte er den Willkommensgruß. Wie aus dichtem Nebel hörte er, die beiden Säle seien »besetzt«, er müsse,

Weitere Kostenlose Bücher