Bitteres Blut
Schädel.«
Was da von der Harley Davidson stieg, war die um zwanzig Zentimeter gekürzte Ausgabe Jack Nicholsons aus »Easy Rider« und entsprach ganz und gar nicht dem Bild des asketischen Müsliriegelliebhabers, den Lorinser erwartet hatte. Die breite Stirn des etwa vierzigjährigen Mannes war nicht nur mit einem roten Band umschlungen, sie war mit einem sich küssenden Totenkopfpärchen tätowiert, die Augen von einer metallenen Sonnenbrille verhüllt. Am linken Ohrläppchen hing an einem gebogenen silbernen Nagel eine schwarze Plastikkirsche, die aus winzigen LEDs blitzende Lichtsignale aussandte. Schwarze Lederweste auf nackter, gebräunter Haut. Kurze, ausgefranste Jeans, schwere Lederstiefel, deren mit Lederfett überdüngte Schäfte wie eine Ziehharmonika gefaltet waren.
»Ja, ich weiß«, sagte Frank Sievers herausfordernd, kaum dass er dem Polizisten gegenüber auf den Stuhl geplumpst war. »Ich weiß haargenau, was Sie denken. Aber das ist mir scheißegal. Betrachten Sie mich als zeitgenössisches Kunstwerk. Oder gucken Sie einfach in eine andere Richtung, wenn Ihnen mein Outfit nicht passt. Wir leben schließlich im Versuch einer hoffentlich irgendwann lebenswerten pluralen Gesellschaft, oder?«
»Sie hatten wohl ’ne schlechte Nacht, was?«
»Wundert Sie das angesichts Ihrer gegen uns an den Haaren herbeigezogenen Anschuldigung, wir hätten jemanden umgebracht?«
»Was mich wundert, sind Ihre durch nichts zu rechtfertigenden Unterstellungen, mein Lieber. Mir ist es scheißegal, wie Sie sich kostümieren, nicht scheißegal ist mir, dass Sie mich anpinkeln. Einigen wir uns auf einen Stil, der dem der von Ihnen ersehnten lebenswerten Gesellschaft entspricht?«
»Ganz in meinem Sinne«, sagte Sievers unbeeindruckt und zog eine Packung Gitanes aus der Westentasche. Er reckte sein breites Kinn und deutete mit der blauen Packung auf den Kopfverband. »Ein Liebesbeweis ist das nicht, oder?«
»Nein, die Spuren eines Hockers.«
Sievers’ Brauen bogen sich. Er hielt Lorinser die zerknautschte Packung hin. »Entschuldigung«, sagte er versöhnlicher. »Haben Sie Bock auf was Ehrliches?«
»Ich denke gerade darüber nach, mich davon zu verabschieden.«
»Tut zu weh«, sagte Sievers und schob sich eine Zigarette zwischen die dünnen Lippen. Mit einem Zippo, auf dessen Vorderseite das Harley-Davidson-Emblem graviert war, zündete er sie an. Lorinser sah sich in den leicht blitzenden Gläsern der Sonnenbrille als doppeltes Spiegelbild. Der Verband erweckte den Anschein, als klebte ein großes Preisschild an seiner Schläfe.
»Schön, dass Sie gekommen sind«, sagte er und entdeckte die Kellnerin im Eingang des kleinen Cafés. Er winkte. Sie kam heran. »Ich hätte gerne einen doppelten Espresso«, sagte er. »Und Sie?«
»Das Gleiche, aber mit ’nem Schuss Sahne bitte. Keinen Zucker«, fügte Sievers nach einem weiteren Zug an der Zigarette hinzu. »Es sei denn, Sie hätten braunen. Aus Rohr, meine ich.«
»Tut mir leid, damit kann ich nicht dienen«, sagte das Mädchen.
»Ich werde es überleben.« Sievers lächelte. Die Gitane wanderte in den linken Mundwinkel. »Sie haben meinen Partner ganz schön geröstet«, empörte er sich. »Zittert den ganzen Tag von wegen Verhaftung, und nachts quälen ihn Albträume.«
»Ich habe ihn nicht geröstet, ich habe ihm einige Fragen gestellt. Und wenn ihn Albträume plagen, hat er möglicherweise ein schlechtes Gewissen.«
»Quatsch! Man geht doch automatisch in die Knie, wenn plötzlich ein leibhaftiger Polizist mit solch einem Verdacht vor der Tür steht!«
»Erstens habe ich ihn nicht verdächtigt, und zweitens löst eine Befragung keine Albträume aus. Wenigstens nicht in der Regel.«
»Bei ihm schon. Weil er die berühmte Ausnahme ist. Er hat über den Einfluss des Schlangensymbols in der Kunst promoviert, verstehen Sie?«
»Nein.«
Sievers’ Lippen bogen sich verächtlich, seine Brauen schossen über den vergoldeten Rand seiner Brille. »Kunstsinn. Kultur. Sensibilität, Herr Lorinser! Und dass er für den Alltag nicht besonders gut geschaffen ist. In gewisser Weise schwebt er permanent über den Wolken, ohne besonders gut fliegen zu können, wenn Sie verstehen, was ich damit vermitteln will. Ich frage mich nur, wie Sie auf die absurde Idee kommen, wir könnten etwas mit dem Verschwinden Thorstens zu tun haben? Nur weil er mal bei uns zu Besuch war?«
Lorinser spürte Unmut in sich aufsteigen. Gegen sich selbst. Es gefiel ihm ganz und gar nicht,
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