Bitteres Rot
nennen mich Gino. So hieß ich damals. Sagt dir das nichts?«
Natürlich hatte ich von Gino gehört, der zusammen mit den anderen Widerstandskämpfern aus Sestri den Deutschen die Hölle heißgemacht hatte. Alles echte Anarchisten, |78| ihre Aktionen waren regelrechte Himmelfahrtskommandos gewesen. Damals nannte man sie
leggeroni
. Allerdings waren sie keine Hasardeure, sondern echte Patrioten. Wenn ich in dieser Zeit gelebt hätte, wäre ich einer von ihnen gewesen, da war ich sicher.
»Natürlich, mein Großvater hat mir alles über Sie erzählt.«
»Und dein Vater?«
»Er sprach nicht viel.«
»Stimmt, Guido machte nie viele Worte. Baciccia wird dir wohl auch erzählt haben, dass man uns ›die Draufgänger‹ genannt hat. Da war vielleicht sogar was dran. Ende ‘43 musste ich abtauchen, weil ich den Bogen überspannt hatte. Ich arbeitete damals als Maurer und trug immer eine Waffe bei mir. Eines Morgens war ich gerade dabei, den Dachgiebel eines Hauses in Calcinara auszubessern, als ein Lastwagen voller Schwarzhemden vorbeifuhr, die lauthals die ›Giovinezza‹, die Hymne der faschistischen Bewegung in Italien, sangen. Na ja, sangen ist zu viel gesagt. Sie blökten eher wie Schafsböcke, das kannst du mir glauben. In meiner Tasche hatte ich eine funkelnagelneue Mauser, die aus der Werft herausgeschmuggelt worden war. Ich konnte einfach nicht widerstehen und habe losgeballert. Dabei habe ich wohl einen erwischt und sie flohen Hals über Kopf. Jemand muss mich erkannt haben, denn sie kamen zu mir nach Hause, um mich abzuholen. Gerettet hat mich meine Liebe zu den Frauen. Just an diesem Abend war ich zu Mariù ins Bordell gegangen, deshalb konnte mein Bruder mich rechtzeitig warnen.«
Eine faszinierende Geschichte. Für einen Moment vergaß ich Hessen, meinen Auftrag und sogar die Schläuche und Kabel, die Jasmines Körper am Leben hielten. Ich dachte an mich und mein Leben und daran, dass vieles im Leben Schicksal ist.
|79| Wie oft schon hatte ich darüber sinniert, warum ich gerade diesen Drecksjob gewählt hatte. Privatdetektiv! Ganz zu schweigen von der Art und Weise, wie ich den Beruf ausübte. Mein untrügliches Gespür für Katastrophen. Überall dort, wo das Chaos am größten war, da war auch ich. Dabei kam ich finanziell gerade so über die Runden. Ich setzte alles aufs Spiel: meine Existenz, meine Träume und Hoffnungen, selbst mein eigenes Leben. Ich hatte immer geglaubt, man dürfe erst dann schießen, wenn man selbst in Gefahr ist, wenn der andere dabei ist, abzudrücken. Doch in diesem Augenblick spürte ich, dass wir Brüder im Geiste waren: Gino, mein Vater, die anderen Jungs von damals … und ich. Zum allerersten Mal wurde mir bewusst, dass ich der Sohn eines Mannes war, der im Widerstand nicht nur gekämpft, sondern auch getötet hatte. Dass meine schon chronische Perspektivlosigkeit das Erbe meines Vaters war, eines Mannes, für den es keine Zukunft mehr gab. Diese verhängnisvolle Logik hatte sich in mir festgesetzt, für Vernunft und Einsicht war ich blind und taub. Da nutzte es auch nichts, mir einzureden, dass sie damals zwanzig waren und ich heute über fünfzig bin, dass damals zwischen Gegenwart und Zukunft ein Kapitel der Weltgeschichte lag: der Krieg, die Besatzung, der Hunger, die Bombenangriffe, der Terror …
Warum hatte ich nicht früher darüber nachgedacht? Ganz einfach: Mein Vater hatte nie mit mir über die damalige Zeit gesprochen. Gino hatte recht, Guido Pagano war kein Mann der Worte. Alles, was ich wusste, hatte mir mein Großvater erzählt. Auch er war Arbeiter, auch er war Kommunist, auch er litt Höllenqualen im Gefängnis. Von den Faschisten verprügelt, in aller Öffentlichkeit auf demütigende Art und Weise mit Rizinusöl behandelt und sich danach in die Hosen geschissen. Aber Baciccia hatte nie jemanden erschossen. Ich glaube sogar, dass er |80| niemals eine Waffe in der Hand hatte. Die Geschichten, die er mir geduldig immer wieder erzählt hatte, waren zwar aufregend und zeichneten ein stimmungsvolles Bild seiner Heimat, aber die grausame Wahrheit der damaligen Zeit hatte ich durch ihn nicht erfahren. Mein Großvater war eben aus anderem Holz geschnitzt.
Als ich wieder aufblickte, bemerkte ich das mitfühlende Lächeln auf Ginos Gesicht. Konnte er etwa Gedanken lesen?
Er versuchte mich aufzuheitern. »Hör mal, ich würde dir gerne helfen, aber ich weiß nicht, wie.«
»Schon passiert.«
»Hast du dich umgehört?«
»Ja, bei Olindo
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