Bitteres Rot
meiner Vespa hinüber und fuhr in Richtung Sestri. Es war schon fast Mittag. Der Himmel war bleigrau, der Wind hatte gedreht. Er kam jetzt vom Meer und brachte feuchtwarme Luft mit. Im Westen stauten sich die Wolken an den Berghängen, von den schneebedeckten Gipfeln war nichts mehr zu sehen. In der Luft lag der beißende Geruch der Stahlwerke von Cornigliano. Allerdings nicht mehr so penetrant wie früher, als sie noch Vierundzwanzig-Stunden-Schichten fuhren und Fenster und Balkone von feinem roten Staub überzogen waren.
Eine Viertelstunde später parkte ich die Vespa in der Via Biancheri und ging in Richtung Piazza Baracca, um dort etwas zu Mittag zu essen. Ich überquerte den Platz und fand mich an der Ecke zwischen Via Cavalli und Piazza Oriani wieder. Mein Blick fiel auf das Verdi-Kino und auf das Gebäude, in dem damals die Faschisten residiert hatten. Dort hatten die Partisanen 1944 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion die rote Fahne und die italienische Trikolore gehisst. Das hatte mir mein Großvater erzählt. Nachdem ich an der Theke einer Bar einen Kaffee getrunken und ein Brötchen hinuntergeschlungen hatte, streifte ich ziellos durch die Gegend. Ohne zu wissen, warum, bog ich in eine Seitenstraße ein und kam an einer angelehnten Tür vorbei. Irgendetwas erregte meine Aufmerksamkeit. |73| Ich blieb stehen. Es war das Schild der Geschäftsstelle Sestri der ANPI, der Nationalen Vereinigung der Italienischen Partisanen. Wer weiß, wie oft ich schon daran vorbeigelaufen war, ohne es zu bemerken.
Ich beschloss, mein Glück zu versuchen, öffnete die Tür und stieg die schmale Treppe hinauf. Oben erwartete mich ein enges Büro mit zwei Schreibtischen, alles penibel aufgeräumt. Durch die verglaste Balkontür drang ein schwacher Lichtstrahl, so als würde er sich nicht hereinwagen. An den Wänden hingen Fahnen, Spruchbänder und vergilbte Porträts von gefallenen Partisanen sowie Gruppenfotos der Garibaldi-Brigaden aus Sestri: »Longhi«, »Alpron« und »Sordi«. Keine Menschenseele weit und breit. Ich rief: »Hallo? Ist da jemand?«
Aus dem Nebenzimmer tauchte ein alter, aber agil wirkender Mann auf.
»
Buongiorno
, was kann ich für Sie tun?«
»Wenn Sie Zeit haben, würde ich Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.«
»Zeit? Mit dreiundachtzig wird die Zeit langsam knapp«, sagte er mit rauer Stimme.
Er war ein stattlicher Mann mit einem sorgfältig gepflegten Bärtchen. Die Kleidung war einfach, aber ordentlich: Cordhose, kariertes Hemd, dunkle Wollstrickjacke und passende Baskenmütze.
Ich musste lachen und setzte mich. »Ich suche einen Mann. Den Sohn einer Frau, die früher in Sestri gewohnt hat.«
»Und wie heißt er?«, fragte er neugierig.
»Wenn ich das wüsste.«
Er sah mich vielsagend an. Erstaunt, aber auch mit leisem Spott.
»Ich glaube, Sie haben ein Problem. Warum suchen Sie nach ihm?«
|74| »Ich soll ihm sagen, dass er einen Haufen Geld erbt.«
»Der Mann ist ein Glückspilz«, sagte er schmunzelnd. Doch sein Misstrauen war geweckt: »Sind Sie Anwalt?«
»Sagen wir, meine Aufgabe ist es, eine Anwaltsangelegenheit zu einem guten Ende zu bringen. Der Bruder des Mannes, den ich suche, ist sehr krank. Er ist mein Auftraggeber.«
»Wenn er wirklich sein Bruder ist«, sinnierte der Alte, stützte seine Ellenbogen auf den Schreibtisch und ließ die Handgelenke knacken, »dann muss er doch wissen, wie er heißt.«
»Sie haben verschiedene Väter. Er weiß nur, dass die Mutter Nicla hieß.«
»Er kennt nicht einmal den Nachnamen der eigenen Mutter?«
»Eine komplizierte Geschichte.«
»Das können Sie laut sagen.«
»Er wurde während des Krieges geboren. Sein Vater war ein deutscher Offizier, der 1944 umgebracht wurde.«
»Etwa von uns?«, unterbrach er.
»Das Attentat auf das Odeon-Kino. Erinnern Sie sich?«
»Wie könnte ich das vergessen? Jeden Tag denke ich an diese Burschen.« Er zeigte auf ein Bild hinter mir, das Massaker am Turchino-Pass. »Eines der Opfer stammte aus Sestri. Sandro, ich kannte ihn gut.«
Nachdenklich betrachtete ich das Foto von Sandro Fallabrino, der im Alter von neunzehn Jahren hingerichtet worden war. Die Vergeltung der Deutschen für den Anschlag. Er war genauso alt gewesen, wie meine Tochter jetzt. Hessen hatte recht: Wer überleben wollte, musste als Erster schießen. Manche Widerstandskämpfer hatten schon eine Waffe getragen, noch bevor sie die erste Freundin hatten. Man musste nur wissen, auf wen man zielte, bevor man abdrückte.
|75| »Bevor er
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