Bitteres Rot
hatte sich zu Tode erschreckt. Dass die beiden nach ihrem Gespräch in lautes Gelächter ausgebrochen waren, hatte Tilde gar nicht gefallen. Wie lange war das jetzt her? Zwei Wochen vielleicht? Sie erinnerte sich nicht genau, aber es kam ihr vor wie eine Ewigkeit.
Am schlimmsten war die Vorstellung, dass Strappaunghie plötzlich auf dem Fest auftauchen könnte. Vergeblich hatte Iolanda in der Straßenbahn versucht, sie zu beruhigen. »Mach dir keine Sorgen, die Folterknechte der Deutschen sind zu diesen Festen nicht eingeladen.«
Sergente Walden war äußerst zuvorkommend und hatte ihr ein Glas Champagner gereicht. Wild gestikulierend und mit einigen Brocken Italienisch entschuldigte er sich dafür, dass er das Glas ihrer Fahrradlampe zerschlagen hatte. Danach war er verschwunden.
Iolanda sah in ihrem eleganten schwarzen Kleid einfach umwerfend aus. Sie war in ihrem Element. Zwischen Umarmungen und Handküssen der Offiziere erklärte sie Tilde, wie man die Deutschen unterscheiden kann: die Wehrmacht in Graugrün, die SS in Schwarz und die Gestapo natürlich in Zivil.
Nach einer Weile begann der Alkohol zu wirken, und als ihr Biscias Worte in den Sinn gekommen waren, konnte sie sich ein Lächeln nicht verkneifen: »Man müsste nur eine Bombe deponieren und … bumm!« Hier und heute hätte sie keinen Moment gezögert, eine Handgranate unter den Tisch zu rollen, auf dem die Kellner all die wunderbaren Dinge serviert hatten, Delikatessen, die sie nur aus Romanen kannte: Lachs, Kaviar und Gänseleber. Am meisten hatte sie der gewaltige Schweinebraten fasziniert. |85| Ein großes saftiges Stück und dazu eine Scheibe Schwarzbrot, das höchste der Gefühle.
Gerade als sie ihr zweites Glas Champagner geleert hatte, betrat Hessen den Saal, unsicher, fast zögernd. Walden hatte ihn bestimmt über Tildes Anwesenheit informiert. Als ihr bewusst wurde, dass er sie suchte, stellte sie ihr Glas ab und ging ihm entgegen. Ein Lächeln trat auf sein Gesicht. Heute wirkte der Hauptmann sehr gepflegt, sorgfältig rasiert, der Hemdkragen war geschlossen.
»
Buonasera
,
Capitano
. Wie schön, Sie wiederzusehen.« Tilde war ein wenig verwirrt.
»
Buonasera, Signorina,
Sie hier?
«
Er deutete eine Verbeugung an.
»Meine Freundin Iolanda hat mich mitgenommen. Kennen Sie sie?«
Sie blickte sich suchend um. Wo war Iolanda nur? »Ich habe ihr von unserer Begegnung erzählt, damals in der Nacht, als ich festgenommen wurde. Und dass ich mich gerne persönlich für alles bei Ihnen bedanken würde. Deshalb bin ich hier.«
»Wunderbar.« Mit einem Lächeln hatte er ihr ein Glas Champagner gereicht, ihr drittes.
Hessen rührte keinen Bissen an, dafür leerte er Glas um Glas und rauchte unablässig dünne Filterzigaretten. Es schien, als wollte er sich betäuben. Tilde hatte noch den Lachs und die Gänseleber gekostet, danach ein mächtiges Stück Schokoladentorte, aber der Schweinebraten hatte ihr am besten geschmeckt. Ein weiteres Glas Champagner hatte sie abgelehnt, da sie die Kontrolle nicht ganz verlieren wollte. Den ganzen Abend hatte er sie nicht aus den Augen gelassen. Sie hatten getanzt und sich gegenseitig ihr Leben erzählt, als wäre es ein Film. Dabei hatte sie erfahren, dass Hessen deshalb so gut Italienisch sprach, weil er in seiner Kindheit und Jugend die Sommerferien |86| im Chianti verbracht hatte, wo die Eltern seines Vaters ein Landgut inmitten von Weinbergen und Olivenhainen besaßen. Die toskanische Sonne, die Späße mit den Bauernkindern und die ersten schüchternen Küsse gehörten zu den glücklichsten Momenten seines Lebens. Gegen zehn wurde der Hauptmann unruhig. Der viele Alkohol schien seinen Tribut zu fordern. Unvermittelt fragte er: »Wollen Sie mich nach Hause begleiten?«
Tilde versuchte die aufsteigende Hitze zu ignorieren, die bestimmt der viele Champagner hervorrief. Sie schlug die Augen nieder.
»Gerne.«
Walden war im Auto sitzen geblieben. Der Motor lief und die Scheinwerfer waren wie Lichtfinger auf die Fassade der Villa gerichtet. Hessen öffnete die schwere Tür und bat Tilde herein. Dunkelheit schlug ihr entgegen. Noch eine Weile konnte man ein schwaches Motorengeräusch hören, dann verstummte auch das. Eine Tür schlug zu.
»Es gibt kein elektrisches Licht, wir müssen uns mit Kerzenlicht begnügen.«
Tilde seufzte tief, das Herz klopfte ihr bis zum Hals, der Boden unter ihr schien nachzugeben. Im Dunkeln würde alles einfacher sein. Ein schwacher Trost.
Hessen zündete die Kerzen
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