Bitteres Rot
Partisaneninstinkt.«
|141| Zwei Fahnen
Genua, März 1944
Das Ticken des riesigen Weckers auf dem Nachtschränkchen ließ sie nicht schlafen. Es war noch zu dunkel, um die Uhrzeit zu erkennen, aber es musste mitten in der Nacht sein. Das Feuer im Kamin war schon lange heruntergebrannt, im Zimmer war es eiskalt. Sie hörte das schwere Atmen des Mannes neben sich und wäre am liebsten geflüchtet. Hatten sie zu Hause etwas gemerkt? Nur widerwillig hatte sich ihre Tante auf den Schwindel eingelassen. »Ich helfe den Partisanen und will nicht, dass sich meine Eltern Sorgen machen.« Die alte Frau hatte Tildes Mutter gefragt, ob Tilde zweimal in der Woche bei ihr übernachten dürfe, und diese war einverstanden gewesen. Inzwischen fragte sich Tilde allerdings, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn ihre Mutter Nein gesagt hätte.
Dieses Hin und Her dauerte nun schon einen Monat, allmählich ging es an die Substanz. Auch den Kolleginnen in der Fabrik war nicht entgangen, dass sie sich verändert hatte: »Geht’s dir nicht gut, Tilde? Du siehst müde aus. Bist du in Schwierigkeiten?« Nur ihre Familie schien nichts zu bemerken. Vielleicht wollten sie es nicht sehen. Sie hatten genug andere Sorgen.
|142| Immer das Gleiche. Kurz vor Beginn der Ausgangssperre schwang sie sich auf ihr Fahrrad, fuhr den kurzen Weg zum Friedhof hinauf und wartete. Das Fahrrad versteckte sie in den Büschen. Dann erschien Sergente Walden und brachte sie in die Villa. Nach dem Frühstück am nächsten Morgen setzte er sie pünktlich wieder am Friedhof ab. Tilde schwang sich aufs Rad und fuhr die Via Sant’Alberto hinunter in die Fabrik. Jeder, dem sie auf ihrem Weg begegnete, musste denken: »Ein braves Mädchen, das sich nicht nur um die kranke Mutter, sondern auch noch um die alte Tante kümmert.«
Waldens Italienisch wurde immer besser. Vielleicht lernte er Vokabeln, damit sie sich auf der Fahrt unterhalten konnten, der Weg von Sestri nach Albaro war lang.
Hessen trank und rauchte exzessiv, jedes Mal. Der Alkohol war das Elixier, mit dem er seine Seelenqualen betäubte. Dieser Krieg hinterließ nicht nur sichtbare Wunden. Tilde fragte sich: War auch sie nur ein Mittel zum Zweck? Alle wollten etwas von ihr. Sie war nur da, um zu funktionieren, die anderen nicht zu enttäuschen: Tilde, die Küchenhelferin, die Krankenschwester, die Geliebte, die Spionin … Manchmal kam sie sich vor wie aus Glas, zersplittert in viele kleine Stücke. Was sie wollte, interessierte niemanden. Nur ein Mensch hatte ihr das Gefühl gegeben, sie selbst zu sein, und diese Frau war von Biscia erschossen worden. Als Dank dafür, dass er sie vor Folter und Tod bewahrt hatte, erwartete Hessen eine Gegenleistung. Doch was erwartete sie eigentlich von ihm?
Sobald Tilde in seiner Nähe war, schien Hessen wie verwandelt und seine Schwermut wurde von blankem Fatalismus abgelöst. Während Dutzende ihrer Landsleute im Feuerhagel der Faschisten und der SS starben, faselte er etwas von Schicksal und vom raschen Ende des Krieges. Ihre aufkeimende Wut vermochte sie nur mit Cognac und |143| Sex zu betäuben. Durch den Alkohol enthemmt, bohrte sie ihm ihre Fingernägel in den Rücken, bis sie spürte, dass er zum Orgasmus kam. In manchen Nächten glaubte sie sogar die Schmerzensschreie der gefolterten Partisanen aus dem Keller des nahe gelegenen Studentenwohnheims hören zu können. Aber das konnte nur Einbildung sein. Andernfalls hätte sie ein Messer gepackt und es ihm ins Herz gerammt. Manchmal allerdings schämte sie sich auch für ihre Rachegefühle, eigentlich hätte sie ihm dankbar sein müssen. Immerhin konnten mit seiner Hilfe vier Widerstandskämpfer aus dem Gefängnis fliehen und eine Kurierin eine Straßensperre der Deutschen umgehen. Das war seine Gegenleistung für ihre Hingabe. Für die GAP waren seine Hinweise unbezahlbar. Gute Gründe für sie, das Spiel weiterzuspielen.
Tilde wälzte sich hin und her, ihr war hundeelend, die Angst ließ sie nicht los.
»Helmut, wach auf!«
Wie immer hatte sich Hessen bis zur Besinnungslosigkeit betrunken, sie musste ihn kräftig schütteln, bis er endlich wach war. »
Was ist passiert, Fräulein
?«
»Hast du nichts gehört?«
»Was?«
»Die Schreie.«
»Was redest du denn da? Du musst geträumt haben«, murmelte er. Sie solle ihn in Ruhe lassen.
»Sie kommen aus der Kommandantur, wo deine Leute die Gefangenen foltern.«
»Auf diese Entfernung? Das kann nicht sein.«
»Aber ich höre sie trotzdem …« Sie
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