Bitteres Rot
deswegen ein schlechtes Gewissen? Es war doch Olindo, der versprochen hatte, das Geheimnis zu wahren. Was sprach dagegen, nach Niclas Tochter zu suchen und ihr von der Absicht ihres Halbbruders zu erzählen, sie zu einer reichen Frau zu machen? Eigentlich nichts. Und doch, meine Zweifel blieben.
Nach Olindos Worten war die jetzt etwa Sechzigjährige von ihrer Mutter alleine aufgezogen worden. Ihr Leben war gewiss nicht einfach gewesen. Jetzt hatte sie einen Enkel und der gesunde Menschenverstand sagte ihm, dass ihr eine großzügige Erbschaft nur recht sein konnte. Dass sie dafür den Schock verdauen müsste, einen Halbbruder zu haben, der noch dazu von einem deutschen Offizier gezeugt worden war, schien mir zumutbar.
Und trotzdem:
Würde sich ihr Leben verändern?
Wenn ja, in welche Richtung? Seit dem Krieg waren mehr als sechzig Jahre vergangen und niemand sah in einem Deutschen noch einen Feind Italiens, selbst Comandante Olindo Grandi nicht. Die schlimmsten Feinde |148| Italiens waren und sind die Italiener selbst. Während meiner Aufenthalte in Deutschland hatte ich den Eindruck, dass das Bestreben, die Vergangenheit zu bewältigen, ohne sie zu verleugnen, bei den Deutschen ehrlicher und nachdrücklicher war als bei uns. Sicher, die Schuld, die Deutschland während des N S-Regimes auf sich geladen hatte, war gewaltig, ja von apokalyptischen Ausmaßen. Aber auch wir in unserem kleinen Italien haben Rassegesetze beschlossen, Konzentrationslager wie die Risiera di San Sabba gebaut, Andersdenkende in die Verbannung geschickt und Regimegegner geschlagen, gefoltert und ermordet. Tatsache ist, dass wir die Lektion nicht begriffen haben, nämlich eine erlittene Niederlage auch anzuerkennen. Wir haben die Geschichte einfach ignoriert und uns selbst in die Tasche gelogen. Wir haben versucht, aus der Niederlage einen Sieg zu konstruieren. Wir Italiener sind eben Traumtänzer, Illusionen sind unsere Art der Vergangenheitsbewältigung.
Das schrille Klingeln des Telefons riss mich aus meinen Gedanken und brachte mich ins Hier und Jetzt zurück. Die aufgeregte Stimme der Frau kam mir bekannt vor.
»Dottor Pagano?«
»Ja.«
»Erinnern Sie sich an mich? Ich bin Elsa Parodi.«
Ja, das war sie, die besorgte, leicht hysterische Stimme von Ballettas Tochter, dem alten Haudegen, der sich nicht mit mir treffen wollte.
»Natürlich erinnere ich mich.« Ich versuchte meiner Stimme eine gewisse Wärme zu geben, was aber gründlich misslang. »Schön, von Ihnen zu hören. Was verschafft …?«
»Sie hatten mich gebeten, mit meinem Vater zu sprechen, wenn er sich wieder beruhigt hat, erinnern Sie sich?«
Sie wurde die Idee, ich könnte sie vergessen haben, einfach nicht los. Fürchtete sie etwa, ich hätte sie nicht ernst |149| genommen oder die Verbundenheit ihres Vaters zu meiner Familie unterschätzt?
»Aber sicher. Ich hoffe nur, keine alten Wunden aufgerissen zu haben.«
»Nun ja, ich musste schon etwas energisch werden. Mein Vater spricht nicht gerne über diese alten Geschichten. Aber ich habe ihn bei seiner Ehre gepackt, Ihre Eltern sind für ihn Heilige. Als wir nach Genua kamen, brachte mich meine Mutter oft zu ihrer Freundin Anna in die Via dei Servi. Ich war noch ein Kind, Sie waren noch gar nicht auf der Welt. Aber an Anna kann ich mich gut erinnern. Sie nahm mich auf den Arm, wir gingen in die Küche und dort machte sie mir ein Brot mit Olivenöl und Tomaten, das mochte ich so gerne. Vielleicht halten Sie mich für sentimental, aber ich erinnere mich sogar noch an den Geruch ihrer Kleidung. Wenn sie mich auf dem Arm hatte, schloss ich die Augen und atmete ganz tief ein, sodass ich den Duft den ganzen Tag in der Nase hatte. Ihre Mutter Anna war eine schöne Frau. Ich war ein bisschen neidisch, das muss ich zugeben, denn ich hätte auch gerne so eine Mutter gehabt.« Nach kurzem Schweigen fügte sie hinzu: »Sie halten mich jetzt bestimmt für naiv, weil ich das erzähle …«
»Aber nein, Elsa. Ich darf Sie doch Elsa nennen?«
»Natürlich. Wenn Sie einige Jahre älter wären, hätten wir als Kinder bestimmt miteinander gespielt.«
»Wirklich schade.« Das meinte ich durchaus ernst.
Die Erinnerung an meine Mutter stimmte mich nachdenklich. Ich glaubte, ihre Stimme zu hören, ihr sündhaft teures Parfüm zu riechen. Eines Tages hatte mein Großvater Baciccia zu mir gesagt: »Deine Mutter ist eine glückliche Frau. Guido weiß genau, wie viel ihr dieses Parfüm bedeutet. Er spart und spart, nur um es ihr
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