Bitteres Rot
weinte, schämte sich aber gleichzeitig, denn sie hatte wirklich nichts gehört. Sie weinte nicht um die Opfer, sie weinte um sich selbst. Die Wut, die Angst und die Übelkeit brauchten ein Ventil. »Können wir uns ein bisschen unterhalten?«
|144| Schläfrig drehte Hessen sich um. »Du musst um fünf Uhr aufstehen.«
»Trotzdem, ich will mit dir reden!«
Hessen gab auf. Sie war wie ein kleines Kind, das aus einem schlechten Traum aufgeschreckt war und jemanden zum Trösten brauchte. Er versuchte sie zu beruhigen: »Soll ich dir ein Märchen erzählen,
kleine Prinzessin
?«
»Du hast mir schon eines erzählt. Du hast mir versprochen, dass du mir diesen Maestri vom Hals schaffst. Hast du das vergessen?« Ihre Stimme klang verärgert.
»Und deswegen hast du mich geweckt?«
»Ich habe Angst«, murmelte sie wieder freundlicher und schmiegte sich an ihn.
»Angst? Dafür gibt es keinen Grund.«
»O doch! Nach der Sache mit Iolanda fällt der Verdacht bestimmt auf mich. Sie wissen, dass ich die Verräterin ans Messer geliefert habe. Du hast es mir versprochen. Und was ist passiert? Nichts.«
»Dieser Mann ist schlau, er lässt sich rund um die Uhr beschützen.«
»Es wird doch eine Möglichkeit geben …«
»Natürlich, aber wir brauchen erst eine gute Gelegenheit. Ich glaube, ich habe einen Schwachpunkt gefunden.«
»Wirklich? Welchen?« Einen Moment lang war ihre Übelkeit wie weggeblasen.
»Er ist ein fanatischer Spieler. Er verbringt ganze Nächte am Spieltisch und verliert Unsummen.«
»Wie hast du das herausgefunden?«
»Er leiht sich Geld. Deshalb ist er erpressbar und für uns ein Risiko.«
»Kompliment, Hauptmann. Das hätte ich dir gar nicht zugetraut!«
»Es gab Gerüchte in der Kommandantur. Vielleicht hat |145| er Offiziere angepumpt, oder einen von der Gestapo. Dort halten sie ohnehin nicht viel von der Polizia Politica.«
Gestapo
. Schon das Wort ließ sie schaudern. Sie drängte sich noch dichter an ihn. »Bist du sicher, dass sie dich nicht verdächtigen?«
Er sog tief den Duft ihrer zerzausten schwarzen Haare ein und lächelte unergründlich: »Bei denen weiß man nie.«
»Du musst herausfinden, wo er spielt.«
»Und was machst du?«
Tilde kam der gestrige Tag in den Sinn, als sie vor dem Fabriktor gestanden hatte. Die hineindrängenden Arbeiter waren guter Dinge gewesen. Man hatte sich auf die Schultern geklopft, gescherzt und gelacht. Die Stimmung war so ausgelassen gewesen wie schon lange nicht. Sie war auf einige Männer zugegangen, die sie kannte, darunter auch ein Parteigenosse ihres Vaters, der als Schmied am Dampfhammer arbeitete. Er hatte vor einigen Monaten die Tochter ihrer Nachbarin Maria geheiratet. Der hagere junge Mann strotzte vor Vitalität.
»Was ist los?«, hatte sie ihn gefragt und einen Moment lang gehofft, der Krieg sei zu Ende.
Der gut aussehende Lockenkopf hatte ihr zugezwinkert. »Auf dem Turm der faschistischen Parteizentrale wehten heute Morgen zwei Fahnen.«
»Zwei Fahnen?«
»Die grün-weiß-rote Trikolore und die rote Fahne.«
Allein die Vorstellung dieses Schauspiels hatte ihr neue Kraft gegeben. Die Angst war verflogen und sie hatte spöttisch geantwortet: »Ich warte im Auto auf ihn, um ihn zu trösten, oder?«
Hessen presste sie plötzlich brutal an sich. Die ihm zugedachte Rolle des skrupellosen Mörders hatte ihn aus seiner Lethargie gerissen. Er war erregt und wollte sie küssen, doch sie wandte sich ab, sein Mundgeruch war ihr |146| zuwider. Sie drehte sich vollends um, eine stumme Aufforderung, sie von hinten zu nehmen. Teilnahmslose Hingabe, die einer Unterwerfung gleichkam. Hessen drang in sie ein. Er konnte sich nicht lange zurückhalten, stöhnte auf und kam sofort. Tilde spürte, wie sich das warme Sperma in sie ergoss.
So war es immer zwischen ihnen. Keine Fragen, keine Vorsicht, als ob es kein Morgen gäbe. Die Zukunft spielte keine Rolle, weil es keine Zukunft gab.
Dachten sie. Denn sie wussten noch nicht, dass sich etwas ankündigte. Die Zukunft begann mit einem Brechreiz, den sie zu unterdrücken versuchte, weil sie nicht wusste, was sie tun sollte.
Was hatte sie eigentlich gefühlt, als Hessen zum Orgasmus kam? Verdammter Krieg. Sie weinte lautlos. Noch nie war sie so einsam gewesen.
|147| Das Versprechen
Als ich nach Hause kam, war es schon spät am Nachmittag. Das Gespräch mit Olindo Grandi belastete mich. Was würde noch alles zutage treten, wenn ich weiter in der Vergangenheit herumschnüffelte? Warum hatte ich
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