Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bitteres Rot

Bitteres Rot

Titel: Bitteres Rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Morchio
Vom Netzwerk:
es allmählich zu bunt. Warum lenkte er schon wieder ab?
    »Sie haben das Versprechen doch nicht abgelegt. Warum nur wollen Sie mir den Namen nicht nennen?«
    Er zuckte mit den Schultern und schob die Unterlippe vor. Sein Blick folgte einer imaginären Linie an der Decke. Hinter den halb geschlossenen Augenlidern versteckten sich die Pupillen wie zwei Mäuse, die einen hungrigen Kater erspäht hatten.
    »Gino, ich habe Sie etwas gefragt«, bohrte ich weiter.
    »Was soll ich sagen?« Er rutschte unruhig auf dem Stuhl herum und fuchtelte wieder mit den Armen, als wollte er |208| einen unangenehmen Gedanken verjagen, wie ein lästiges Insekt. »Ich weiß nicht«, druckste er dann herum. Er brach ab und blickte zu Boden. »Ist das denn eigentlich so wichtig?«, sagte er schließlich.
    Die Möglichkeit, die Wahrheit endlich ans Licht zu bringen, lag näher als je zuvor. Jetzt musste es heraus, Versprechen hin oder her.
    »Hast du es etwa immer noch nicht kapiert?«, entfuhr es ihm unvermittelt. Dabei schaute er auf seine Hände, die er nun wie zum Gebet gefaltet hatte.
    »Was habe ich noch nicht kapiert?«
    In seiner Stimme schwang Ungeduld mit, aber auch Mitleid. Er schien zu überlegen und sagte dann erleichtert, als wäre ihm eine weitere Ausrede eingefallen: »Es gibt keinen Bruder, Bacci. Es hat nie einen gegeben.«
    »Wie bitte?«
    Er hob den Kopf und sah mir fest in die Augen. »Dein Auftraggeber hat von Anfang an Bescheid gewusst. Seit zwanzig Jahren lassen ihn die Gedanken an Biscia und seine Frau nicht mehr los, aber nicht wegen eines Bruders.«
    »Gino, bitte, schweifen Sie nicht schon wieder ab«, unterbrach ich ihn.
    Bavastro hielt inne und seufzte tief. Nach einer kleinen Ewigkeit öffnete er eine Schublade des Schreibtischs und zog ein Foto heraus. Zu meiner Überraschung waren darauf meine Eltern abgebildet, beide noch jung, umgeben von einer ganzen Gruppe von Partisanen.
    »Sein richtiger Name war Guido, und Tilde nannte sich nach dem Krieg wieder Anna.«
    Nach diesen Worten senkte er den Blick. Er schämte sich, die Namen genannt und seine alten Kampfgefährten verraten zu haben. Obwohl mir das Herz bis zum Hals schlug, wartete ich ab.
    Als er den Blick wieder hob, sah ich ihn ernst an. Ich |209| wusste, dass er sich das nie verzeihen würde. Er war zeit seines Lebens ein Widerstandskämpfer, der selbst während der Folterhaft eisern geschwiegen hatte. Aber jetzt saß er einem sprachlos gewordenen Privatdetektiv gegenüber und packte aus. Und das im ANP I-Büro in Sestri Ponente.

|210| Der Krieg geht weiter
    Sestri Ponente, Mai 1944
     
    Die Neuigkeit verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Ob im Café, in der Fabrik oder im Büro: Es gab kein anderes Gesprächsthema. Die Nachricht wurde geflüstert, hinter vorgehaltener Hand weitererzählt oder triumphierend herausgeschrien. Ein Gefühl von Freiheit, das tief aus dem Inneren eines Volkes kam, das Krieg und Elend satt hatte.
    Konnte man dem Kollegen, dem Freund überhaupt vertrauen? Hatte man vielleicht zu viel gesagt? Ein Name hatte stellvertretend für dieses schleichende Gefühl von Misstrauen und Angst gestanden: Maestri. Das Bild dieses massigen Mannes um die fünfzig mit raspelkurzen Haaren und kalten Haifischaugen war in den Köpfen der Menschen allgegenwärtig. Er schien unantastbar, umgeben von einem Schutzwall schwer bewaffneter Leibwächter, die jede drohende Gefahr im Keim erstickten. Seine Einsätze unterlagen strenger Geheimhaltung. Und dann geschah das Wunder: Eine kleine Gruppe junger Männer hatte die Gunst der Stunde genutzt, um den Todfeind in ihre Gewalt zu bekommen. Zum Verhör war er an einen sicheren Ort gebracht worden. Jetzt waren die Rollen vertauscht, jetzt war Maestri das Opfer.
    |211| Deutsche Soldaten, die Guardia Repubblicana, die Brigate Nere und die Polizia Politica hatten alles versucht, um Maestri zu finden, lebend oder tot. Doch auch nach vier Tagen intensiver Suche war er immer noch wie vom Erdboden verschluckt. Es hieß, man habe ihn nach einem gründlichen Verhör aus der Stadt in eine von der Resistenza kontrollierte Zone in den Bergen gebracht.
    Im Laufe des Verhörs hatte Maestri Namen genannt. Kurze Zeit später war das Spionagenetz der Faschisten enttarnt. Die Partisanen hatten die Suchtrupps mit gezielten Fehlinformationen auf die falsche Fährte gelockt und dann erbarmungslos zugeschlagen. Vier bislang als unverdächtig geltende Personen wurden in ihren Wohnungen aufgespürt und erschossen.
    Tilde ging weiterhin

Weitere Kostenlose Bücher