Bitteres Rot
hatte, die gleiche Frisur, die gleichen Kleider. Als ich ein Kind war, setzte sie sich abends an mein Bett, und bevor sie das Licht löschte, erzählte sie mir von ihren Idolen. Ich fand das allerdings ziemlich langweilig und war jedes Mal nach wenigen Minuten eingeschlafen. Ich |200| erinnerte mich aber an Fotos in einer Schuhschachtel, die meine Mutter in entsprechenden Posen zeigten.
Ich stand auf und durchstöberte den Kleiderschrank. Wo war nur diese Schachtel? Ich musste erst einige Schubladen und Fächer durchsuchen, bevor ich sie endlich fand. Dann kehrte ich ins Wohnzimmer zurück, setzte mich aufs Sofa und hob den Deckel. Mein Familienalbum.
Obenauf lag das Hochzeitsfoto meiner Eltern, schwarzweiß natürlich. Auf der Rückseite war mit Bleistift das Datum notiert, der 6. August 1945. Der Tag, an dem die Atombombe über Hiroshima abgeworfen worden war. Beide schauten direkt ins Objektiv, doch ihre Augen strahlten nicht. Auf den Lippen meiner Mutter lag das übliche distanzierte Lächeln, als ob nichts sie wirklich etwas anginge. Immun gegen alle Gefühle, hatte sie es mit diesem ewig unzufriedenen, geistesabwesenden Gesichtsausdruck immer wieder geschafft, ihre Familie zu verunsichern und meinen Vater tief zu kränken. Einerseits war die selbst gewählte Distanz wahrscheinlich ihre Methode, sich gegen alles Bedrohliche abzuschotten, andererseits nahm sie sich damit jede Möglichkeit, auch nur einen Funken Freude zu empfinden. Mein Vater machte wie üblich einen ernsten Eindruck. Offensichtlich hatte er erst seine Frau angesehen, bevor er sich zum Fotografen umgedreht hatte. Die Kamera hatte die Situation punktgenau eingefangen und dokumentierte der Nachwelt das ungeschriebene Drehbuch des Lebens nach diesem schicksalhaften Datum. Meine Mutter war eine gut aussehende Frau, der mediterrane Typ. Auch mein Vater war ein schöner Mann, groß gewachsen, mit fein modellierten Gesichtszügen. Aber er war erschreckend mager, der Hochzeitsanzug hing an ihm wie an einem Kleiderbügel.
Als ich klein war, sagten ihre Freunde immer, ich sähe beiden Elternteilen ähnlich, hätte die Augen, die Haare |201| und die Hautfarbe meiner Mutter und den Körperbau meines Vaters. Eine wirklich gute Mischung, wenn sie mir nur die innere Zerrissenheit und die Selbstzweifel erspart hätten.
Auf dem zweiten Bild waren meine Eltern und meine Großeltern zu sehen, Nonno Baciccia und Nonna Celeste. Es war auch am Hochzeitstag aufgenommen worden. Baciccia mit seinem gutmütigen Gesicht, der leicht schief sitzenden Krawatte und der Zigarre im Mund. Die Gelassenheit in Person, das konnte der Betrachter selbst heute noch spüren. Sein herzliches Lächeln versöhnte mit dem Leben.
Ich suchte nach Fotos aus der Kriegszeit, und endlich, weiter unten in der Schachtel, wurde ich fündig. Eine Gruppe Partisanen, darunter auch mein Vater, posierte mit ihren Moschetti M-9 1-Karabinern , lässig an einen Felsen auf einer abschüssigen Wiese gelehnt. Keiner war älter als fünfundzwanzig. Sie lächelten in die Kamera. Die jungen Männer trugen Kurzarmhemden und kurze Hosen, das Foto musste im Sommer entstanden sein. Ob einer dieser Widerstandskämpfer wohl heute noch am Leben war? Er hätte Nicla gekannt oder an der Seite von Biscia gekämpft haben können. Dann fiel mir wieder ein, dass Biscia in den Städten eingesetzt war und wahrscheinlich nicht in den Bergen gekämpft hatte.
Plötzlich ergriff mich eine tiefe Unruhe. Ich musste etwas unternehmen. Ich zog mich rasch an und wollte gerade Olindo Grandi anrufen, als mir die Idee kam, es zuerst woanders zu versuchen. Bei dem Mann, der versprochen hatte, mir zu helfen, es jedoch nicht getan hatte.
Ich suchte im Telefonbuch die Nummer von Luigi Bavastro heraus. Auch Gino war gut mit meinen Eltern befreundet gewesen, aber wie all die anderen hatte auch er mir nicht die Wahrheit gesagt. Warum nur? Er kannte |202| Nicla nicht und stand bei niemandem im Wort. Bei ihrem Treffen hatte Olindo aber auch ihn überzeugt. Warum verpflichtete das Versprechen des Comandante auch alle anderen zum Schweigen? Gab es einen Zusammenhang mit der Exekution Iolandas? War etwa Biscia die Ursache?
Eines war klar. Ich konnte jetzt keine Rücksicht mehr nehmen, sondern musste das tun, wofür ich bezahlt wurde: den Bruder meines Auftraggebers finden.
Das Telefon klingelte lange, bis sich jemand zum Abnehmen entschloss.
»
Pronto?
« Durch den Hörer klang die Stimme noch rauer und krächzender, als ich sie in
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