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Bitteres Rot

Bitteres Rot

Titel: Bitteres Rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Morchio
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jeden Tag zur Arbeit. Hauptmann Hessen sah sie einmal pro Woche. Mitte Mai kamen seine Schwester Margaretha und ihr Mann an den Gardasee, wo sein Adjutant Walden eine elegante Wohnung mit Seeblick organisiert hatte.
    Tilde fiel es von Tag zu Tag schwerer, nach Hause zurückzukommen. Die Augen ihrer Eltern waren zu Spiegeln geworden, in denen sie schonungslos ihre Erniedrigung lesen konnte. Sie dachte daran, welchen Schmerz sie bei der Nachricht empfinden würden, dass ihre Tochter gefangen genommen und in ein Arbeitslager deportiert worden sei. In manchen Nächten packte sie panische Angst, ihre Mutter würde diesen Schlag nicht verkraften. Wie sollte sie das verantworten? Wäre es nicht besser, das Kind abzutreiben? Hessen beruhigte sie. Sie könne ihrer Mutter ja schreiben, es ginge ihr gut und sie würde in einer italienischen Fabrik nahe Salò arbeiten. Tilde war hin und her gerissen. Aber blieb ihr eine andere Wahl?
    Wie sollte die Familie ohne sie zurechtkommen? Ohne ihr Geld? Auch in diesem Punkt versuchte Hessen sie zu |212| beruhigen. Er würde sich persönlich darum kümmern, dass der Antrag auf Frührente, den ihre Mutter wegen der Lungenkrankheit gestellt hatte, beschleunigt behandelt werden würde. Die neuen Herren konnten also auch anders, nicht nur plündern, erschießen und deportieren.
    Den Comandante hatte sie zum Glück nicht mehr gesehen. Seinen Blick auszuhalten wäre ihr sehr schwergefallen. Aber Dria hatte sie getroffen. Eines Abends, auf der Piazza della Chiesa, war er auf sie zugekommen und hatte ihr gesagt, dass Biscia in die Berge zurückgekehrt war.
    Sie musste immerzu an Biscia denken. Gerade jetzt, wo sie ihn nicht sehen konnte, wurde ihr bewusst, wie sehr sie ihn liebte. Eine Zukunft ohne ihn schien sinnlos, allein der Gedanke daran war grausam. Obwohl die Tage länger wurden und die Sonne es schaffte, sogar die tristen Wände der Wohnhäuser und der Fabriken zum Leuchten zu bringen, schien ihr eigenes Leben grau in grau. Sie versuchte, ihre Trauer mit Wut zu betäuben. Wut auf den Krieg, der nicht nur ihre Jugend, sondern ihr ganzes Leben zerstört hatte. Wenn jede Hoffnung erschöpft ist, dann bleibt die Wut tatsächlich als einziges Mittel gegen die Resignation. Eine bittere Medizin, ein Gift, das alle Träume zerstört und tief im Inneren ein Gefühl der Leere und der Nutzlosigkeit zurücklässt. Ein Gift, das alle anderen Gefühle vernichtet.
    Würde sie das kleine Wesen, das sie in sich spürte, jemals lieben können? »Mein kleiner Bastard«, so nannte sie es. Sie saß in der Falle, es gab keinen Weg mehr, die Liebe und Wertschätzung ihrer Mitmenschen zurückzugewinnen. Der deutsche Hauptmann hatte ihr eine Lösung angeboten, mit der sie wenigstens das Gesicht wahren konnte. Ohne Gegenleistung. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Als er von seiner Schwester und ihrem Mann gesprochen und |213| ihr erklärt hatte, dass die beiden »jung wären und selbst keine Kinder hätten«, wollte er ihr vielleicht einen auch für sie akzeptablen Weg weisen. Dieses Kind des Krieges könnte auch ohne seine Mutter aufwachsen, beschützt und geliebt von Menschen, die nicht so gelitten hatten wie sie. »Wenn der Krieg zu Ende ist, wird unser Kind in Sicherheit sein.« Sie war völlig verwirrt, änderte täglich, stündlich, ja sogar minütlich ihre Meinung.
    Aber das Leben eilte weiter, jeder Tag brachte neue Überraschungen. In Zeiten wie diesen war das Leben selbst ein Krieg.
    Dolores war seit einer Woche nicht mehr gesehen worden. Sie war nicht bei der Arbeit erschienen und hatte ausrichten lassen, sie habe sich bei einem Sturz das Bein gebrochen. Dolores lebte allein in einer kleinen Wohnung am Ortseingang von Pegli. Sie war um die dreißig, sah aber wesentlich jünger aus. Sonst wusste man nichts über sie. Einen Mann hatte sie bisher noch nicht gefunden, kein Wunder, denn Dolores hinkte. Wer würde schon einen Krüppel heiraten? Die Behinderung war sicherlich auch der Grund für ihren Neid auf Iolanda, davon war Tilde fest überzeugt. Die Kolleginnen machten sich Sorgen: Eine Gehbehinderte konnte leicht einmal stürzen und sich verletzen.
    Aber eines Mittags, als Tilde einem Arbeiter einen Teller Kohlsuppe mit Kartoffeln hinstellte, flüsterte dieser ihr zu: »Sie haben Dolores erschossen und dann ihre Wohnung gefilzt. Die hat gelebt wie im Schlaraffenland!«
    Vor Schreck stockte Tilde das Herz. Sie zitterte so stark, dass Suppe auf die Theke schwappte. Wanda eilte zu ihr. »Tilde, was ist

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