Bitterfotze
nicht.
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ICH SAGE TSCHÜS (1993)
Es ist mein letztes Jahr zu Hause, im August nach dem Abitur werde ich nach Stockholm ziehen. Meine Eltern reden nicht miteinander, außer wenn Vater betrunken ist, und dann schreit er herum. Mein Zimmer ist am anderen Ende des Hauses, ich verstehe nicht, was er schreit, höre nur die lauten Stimmen.
Ich schlafe meistens bei Jens oder Micke oder einem der anderen älteren Freunde, die eigene Wohnungen haben. Da ist es ruhig und still, ich kann kommen und gehen, wann ich will. In ihren Betten darf ich ganz nah bei ihnen liegen und fühle mich in ihren Armen geborgen.
Manchmal radle ich nach Hause, um zu essen und saubere Kleider zu holen. Meine Mutter ist verzweifelt und bittet mich jedes Mal, zu Hause zu bleiben.
»Ich möchte nicht, dass du so viel weg bist!«, sagt sie und hält mich an der Lederjacke fest.
Ich biege ihre ekzemschuppigen Hände unsanft auf, laufe schnell zum Fahrrad und radle in die Nacht. »Tschüs!«, rufe ich noch.
Ich halte das Geschrei und das Schweigen nicht mehr aus. Mein Vater ist ständig weg, verschwindet, kommt zu merkwürdigen Zeiten nach Hause, oft mitten in der Nacht. Mutter versucht irgendwie, einen normalen Alltag aufrechtzuerhalten, aber sie weint zu oft. Am Tag oder abends, wenn ich gehen will.
Aber ich radle einfach weg, ich bin jeden Abend fröhlich und schön und betrunken im Doktor Z. Da sind alle meine Freunde und andere nächtliche Existenzen, die gerne aufbleiben, bis das Lokal um drei zumacht.
Eines Nachts komme ich nach Hause, und das Bett meiner Eltern ist leer. Ich habe ein paar Tage nicht mehr zu Haus geschlafen und gehe durch unser stilles Haus und suche. Schaue bei meinem schlafenden kleinen Bruder herein und meiner schlafenden Schwester. Aber keine Mutter und kein Vater. Mir wird ganz unheimlich zumute, und ich zittere, als ich die Türen öffne. Ich habe Angst vor dem, was ich finden könnte. Es gibt keine Grenzen mehr, ich weiß, dass alles passiert sein kann.
Schließlich finde ich meine Mutter schlafend auf einem Klappbett in dem kleinen Nähzimmer, das sie sich eingerichtet hat. Ich bin erleichtert, sie da unversehrt schlafen zu sehen.
»Mama!«, sage ich und schüttle sie. »Wach auf! Ich bin jetzt zu Hause!«
Sie setzt sich mit einem Ruck auf und schaut mich ängstlich an.
»Aha. Prima«, sagt sie nach ein paar Sekunden.
»Wo ist Papa?«, frage ich.
»Das weiß ich nicht!«, sagt sie ärgerlich.
»Gute Nacht!«, sage ich, gehe in mein Zimmer und ziehe den Schlafanzug an.
Als ich die Tür zu meinem Zimmer schließe, fällt es mir plötzlich ein. Dass ich sie nicht gefragt habe, warum sie auf dem Klappbett schläft und nicht in ihrem gemeinsamen Bett. Ich ziehe die Decke über den Kopf und denke, ich habe sie nicht gefragt, weil ich es nicht wissen wollte.
Ich träume, dass ich in einem tiefen Becken schwimme. Plötzlich entdecke ich meinen kleinen Bruder da unten auf dem Grund. Ich versuche, hinunterzuschwimmen, aber es ist zu tief. Ich schaffe nur ein paar Meter. Ich strecke meine Arme aus, soweit es geht, aber ich erreiche ihn nicht und muss immer wieder nach oben, um Luft zu holen.
Im Becken schwimmen viele andere Menschen, und ich weine und rufe, dass sie mir helfen sollen. Manche versuchen es, aber das Becken ist zu tief, ich sehe, dass mein Bruder da unten immer lebloser wird.
Ich versuche es noch einmal, und jetzt sehe ich, dass da unten viele ertrunkene Kinder liegen. Das Becken ist ein Massengrab, ich gebe auf und schwimme an den Rand. Ich versuche, nicht nach unten zu schauen, es ekelt mich, über den Kinderleichen zu schwimmen.
Es passiert immer öfter, dass ich morgens aufwache und das Kissen nass von Schweiß und Tränen ist.
Ich hasse das Gymnasium, und nur meine Freundinnen Ylva, Cissi, Annie und Sanna bringen mich noch dazu hinzugehen. Wir machen alle Gruppenarbeiten gemeinsam, am liebsten in Hallströms Konditorei, da kann man sich so viel Kaffee nachschenken, wie man will, wir trinken Kaffee, bis wir am ganzen Körper zittern. Mit Koffein gedopt halten wir lange Vorträge über Castro und Kuba und die Klassengesellschaft.
Die Lehrer riechen an meinen Kleidern, sie stinken immer nach Rauch und Kneipe, spüren sie vielleicht meine Verwahrlosung? Ahnen sie möglicherweise etwas von meiner dysfunktionellen Familie? Sie haben sich nämlich einen herablassenden, müden Tonfall angewöhnt, wenn sie mit mir sprechen, nicht so erwartungsvoll wie am Anfang, als ich mit guten
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