Bitterfotze
Juliabend von unserer Interrailreise zurück, glücklich, schmutzig und hungrig. Die letzten Tage haben wir von Brot und italienischem Mineralwasser gelebt. Drei Tage lang sind wir ohne Unterbrechung von Griechenland nach Hause gefahren, haben auf Plastiksitzen geschlafen und in heißen Zügen durch Italien und Osteuropa geschwitzt. Aber das macht nichts, es ist ein Teil des Abenteuers, wir sind erfüllt von unserer neu erworbenen, erwachsenen Freiheit.
Mutter hat Kartoffelsuppe gekocht, und eine Weile steht sie lächelnd neben mir und schaut zu, wie ich hungrig das Essen hinunterschlinge. Ein Lächeln und eine ungewöhnliche Ruhe verlocken mich, ihr ein bisschen zu erzählen und zu beschreiben, was wir erlebt haben.
»Die Strände in Korfu waren unglaublich. Wir haben uns jeden Tag gesonnt und im Meer gebadet«, sage ich.
»Aha«, sagt sie zerstreut, dreht sich um, geht zum Tiefkühlschrank und holt eine Tüte Zimtschnecken heraus.
»Prag würde dir gefallen, Mama! Es ist so schön!«, sage ich und erzähle, wie wir es geschafft haben, mitten in Prag eine Unterkunft zu finden.
»Aha«, sagt sie und legt die Schnecken in die Mikrowelle.
»Rom war auch schön, aber zu teuer für uns. Ich werde noch mal hinfahren, wenn ich mehr Geld habe. Wir konnten uns nur Nudeln mit Tomatensoße leisten, dann sind wir weiter nach Griechenland. Da war es billiger.«
»Aha«, sagt Mutter und macht die Kaffeemaschine an.
»Wir haben oft im Zug geschlafen, damit wir länger unterwegs sein konnten. Es ging ganz gut, man gewöhnt sich an die Plastiksitze«, sage ich und betrachte Mutters Rücken an der Spüle.
»Aha«, sagt Mutter und holt das Kaffeegeschirr heraus.
Sie schenkt uns Kaffee ein, setzt sich mir gegenüber und zündet sich eine Zigarette an. Aber mittlerweile habe ich aufgehört zu erzählen. In diesem Moment kommt mein Vater herein, er hat eine Zeitung in der Hand, geht zur Kaffeemaschine und nimmt sich eine Tasse Kaffee.
»Aha, du bist wieder zu Hause«, sagt er und verschwindet mit Zeitung und Kaffeetasse.
Ich betrachte den ausdruckslosen Blick meiner Mutter, sie starrt leer vor sich hin, und ich überlege, ob sie wohl zu viele Schmerztabletten genommen hat.
»Danke fürs Essen«, sage ich, und für einen Moment wacht sie auf und schaut mich an.
»Aha«, sagt sie, steht auf und räumt das Geschirr weg.
Ich gehe ins Badezimmer und dusche lange.
Ich hatte vergessen, wie es war, denke ich. Wie konnte ich es nur vergessen? Aber vier Wochen mit den allerbesten Freundinnen in totaler Freiheit hatten mich vergessen und eine Weile glücklich sein lassen. In den Zügen und Jugendherbergen, an den Stränden und in den Bars hatten wir ununterbrochen über die Zukunft geredet. Wie unser Leben sein sollte und wie es nicht sein sollte. Vier Wochen lang haben wir uns ununterbrochen unser erwachsenes Leben ausgemalt, das in erreichbarer Nähe vor uns liegt und uns erwartet. Großartige Fantasien ohne Schranken.
Ich ziehe die schmutzigen Jeans und ein schwarzes T-Shirt an und radle hinaus in den Sommerabend zum Doktor Z , wo meine Freunde warten. Ich weiß, dass ich heute Nacht nicht alleine schlafen kann, und schon nach einem Bier entdecke ich den schönsten Mann, den ich je gesehen habe. Er heißt Benjamin, ist gerade in unsere Stadt gezogen, wir tanzen, und seine Küsse schmecken nach Nikotin.
Ich fahre ihn auf meinem Fahrrad in seine Studentenbude und liebe ihn mit einer unstillbaren Sehnsucht.
Hinterher raucht er am offenen Fenster. Ich schaue ihn an, ich liege noch auf dem Bett, sein Samen klebt zwischen meinen Beinen. Er kommt wieder zum Bett, gibt mir Nikotinküsse, und ich denke, wie leicht ist es, jemanden zu lieben, wenn man sich sehnt wie ich. Ich könnte jeden lieben, besonders wenn er so schön ist.
Es ist August, und in wenigen Wochen ziehen wir nach Stockholm. Ich, Benjamin und meine besten Freundinnen, alle werden wir umziehen. In ein Studentenwohnheim, wo man Küche und Bad mit anderen Studenten teilt.
Wir haben die Zimmer bisher nur in Broschüren gesehen, aber wir sind sicher, dass sie toll sind, wir ahnen, dass unsere große Zeit dort in der großen Stadt beginnt. Nur noch kurze Zeit, wobei ich schon fast umgezogen bin. Zu Benjamin, wo ich meine Freiheit habe und viel Liebe bekomme.
Die letzten Wochen vor dem Umzug arbeite ich in einer Seniorenwohnanlage und wundere mich, wie fröhlich ein Teil der Alten ist und wie traurig ein anderer Teil. Ich beschließe, fröhlich zu sein, wenn ich einmal alt
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