Bittersuess
vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, weil es für mich tröstend wäre, wenn es ihm auch leid täte.
„Ja“, ich kann nur nicken und wische mir hastig übers Gesicht.
„Stella“, er kommt noch einmal zu mir und setzt sich auf die Bettkante. Er greift nach meiner Hand und streichelt zärtlich darüber.
„Ich hab es ernst gemeint, als ich gestern sagte, dass du etwas Besonderes bist“, sagt er dann leise und sieht mich mit so einem Blick an, der mir den Boden unter den Füßen wegzieht. „Und versteh mich jetzt nicht falsch – ich bin froh, dass ich dich kennen lernen durfte. Auch wenn dies gleichzeitig wohl auch das Schlimmste ist, was mir je passiert ist. Ergibt das einen Sinn?“
„Für mich schon“, antworte ich mit tränenerstickter Stimme.
Er nickt traurig und geht fort.
Ich höre ihn mehrere Türen abschließen, dann lässt er den Motor an und ein Auto fährt weg.
Ich schüttel e den Kopf über mich selbst, denke immer wieder an den gestrigen Abend, an die gestrige Nacht, wie wir eng umschlungen hier geschlafen haben. Wenn uns jemand gesehen hätte – man hätte mich wohl in eine Psychiatrie gesperrt.
Völlig in Gedanken stehe ich auf, erst jetzt fällt mir auf, dass er mir die Handschellen gar nicht drumgemacht hat. Hat er es vergessen? Er schien auch etwas verwirrt zu sein. Oder war das Absicht?
Mein Herz klopft jetzt schneller, ich kann mich frei bewegen – also los. Schnell husche ich unter die Dusche und wasche mich, dann schlüpfe ich in meine Sachen und gehe hinaus auf den kleinen Flur. Was hinter der Türe gegenüber vom Bad ist, weiß ich schon. Dort ist die kleine Küche. Ich betrete sie, reiße alle Schränke auf, doch sie sind leer. Genauso wie die Schubladen. Es gibt einen Kühlschrank, aber der ist aus, auch der Herd scheint nicht zu funktionieren. Auf dem Boden stehen mehrere Plastikflaschen mit Wasser, das ist also meine Ration.
Ich finde hier nichts, was mir wirklich weiterhelfen könnte und ich weiß auch gar nicht, was ich eigentlich genau suche. Etwas, womit ich Türschlösser aufmachen kann? Und dann?
Ich hab so was ja noch nie gemacht, wüsste gar nicht, ob ich das überhaupt könnte. Ich gehe wieder in den Flur, will die Tür zum Wohnzimmer öffnen, wo ich die anderen Entführer schon mal habe sitzen sehen. Aber die Türe ist verschlossen. Offenbar geht es von diesem Raum hinaus ins Freie.
Ich renne zurück in die Küche, mein Puls rast richtig vor Aufregung. Vielleicht hab ich etwas übersehen. In der Küche ist ein kleines Fenster, es ist genauso groß wie das im Schlaf- und im Badezimmer. Auch dieses hier ist vergittert, ich versuche, das Fenster zu öffnen, um an das Gitter zu gelangen, aber der Griff ist abgeschraubt. Ich rüttle und zerre, aber all das ist vergeblich.
Das Gleiche probiere ich im Schlafzimmer – ebenfalls ohne Erfolg.
Frustriert setze ich mich wieder aufs Bett. Ohne irgendwelches Werkzeug ist es einfach nicht möglich.
Mein Blick fällt auf den Korb, in dem Nicolas gestern das Essen mitgebracht hat. Er hat ihn stehen lassen und ich wühle darin herum. Bisher hat man mir nur Plastikgeschirr und Besteck gegeben, vielleicht finde ich hier ja etwas aus Stahl. Doch wieder werde ich enttäuscht.
Meine Entführer haben an alles gedacht. Und mit dem Plastikbesteck werde ich hier nicht viel anfangen können.
Ich greife nach einem Stück Brot und der Wasserflasche und esse erstmal etwas.
Fieberhaft überlege ich, welche Möglichkeiten ich noch habe. Mein Blick fällt auf den Holzfußboden.
Ich springe wieder auf und krabbele auf allen Vieren über den Boden, suche ein loses Stück.
‚Was machst du? Glaubst du im ernst, hier ist ein Geheimgang?’
Ich weiß nicht, wie lange ich jede Wand und jede Nische meiner Unterkunft hier untersucht habe, irgendwann gebe ich auf. Immerhin, ich habe freien Zugang zum Bad und den nutze ich jetzt auch ausgiebig. Ich betrachte mich lange im Spiegel, die Hämatome in meinem Gesicht verblassen langsam und ich bin auch nicht mehr ganz so blass.
Gespannt warte ich auf den Abend, warte auf Nicolas, wie ich mir ehrlich eingestehen muss. Wie wird er heute mit mir umgehen? Werden wir wieder so vertraut miteinander sein? Oder wird es eine Distanz geben?
Ihm dürfte genauso klar wie mir sein, dass es den gestrigen Abend eigentlich gar nicht hätte geben dürfen. Ob er es bereut?
Und wer weiß, ob das überhaupt wahr ist, was er mir erzählt hat. Vielleicht ist er der Anführer des Ganzen, vielleicht ist er gar
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