Bittersüße Heimat.
verschweigen – im Gegenteil: Sie hat ihre Spielräume zu nutzen, um der türkischen Öffentlichkeit bei der Aufklärung zu helfen. Die Türkei stellt sich gern als Teil Europas dar. Aber dass Selbstkritik und Wahrhaftigkeit zu den europäischen Werten der Aufklärung gehören, wird nicht anerkannt.
Edzard Reuter, in Ankara aufgewachsener Sohn Ernst Reuters, fand milde Worte für die Ausstellung: Sie beweise, schrieb er für die türkische Ausgabe, »wie eng und nah unsere beiden Kulturen und Traditionen sich sind. Wir haben die gleiche Grundlage, und sie ist bis heute lebendig.« 81
› Hinweis Vergleicht man die Kataloge, hat der ehemalige Daimler-Benz-Vorstand wohl nicht so genau hingesehen. Frau »Ku« hätte ihrem Schüler Edzard solche Liederlichkeit vermutlich nicht durchgehen lassen.
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Der lange Weg nach Europa
Ursprünglich war Anatolien eine von Armeniern , Juden , Griechen und vielen anderen Völkern besiedelte Kulturlandschaft , in der Handwerk und Künste der Menschheit ein großes Erbe hinterlassen haben . Als die turkmenischen Stämme im 10 . Jahrhundert große Teile Anatoliens eroberten und später die Jahrhunderte währende Herrschaft des Osmanischen Reiches begründeten , zählte die »Urbe völkerung« , die hier seit Jahrtausenden gelebt hatte , nicht mehr . Als »Ungläubige« unterlagen sie zahlreichen Diskriminierungen , unter den Jungtürken und Atatürk wurden sie endgültig vertrieben , aus Anatolien wurde die Türkei . Das Land wurde seiner produktiven Schicht beraubt – die Folgen sind bis heute spürbar .
Das Wirtschaftssystem der Osmanen beruhte au f Raub und Aus beutung; am Aufbau einer Infrastruktur , an der Emanzipation , der Bildung und Ausbildung ihrer muslimischen Untertanen waren sie nicht interessiert . Für sie war Anatolien Durchgangsstation au f ih rem Weg weiter nach Norden und Westen , wo reichere Beute winkte . Als Europa dem im 19 . Jahrhundert widerstand , brach das 500 Jahre währende Osmanische Reich in sich zusammen .
Was haben die Osmanen den Türken in 500 Jahren Herrschaft hinterlassen? Ein schweres Erbe , das die wirtschaftliche und gesell schaftliche Entwicklung des Landes lähmt und den Gang nach Eu ropa , die Integration in die Europäische Union erschwert .
Vielleicht haben Muslime ja einfach nur die ausbeuterische Klassengesellschaft schon überwunden. Zumindest die Männer: Wenn man sie tagsüber in den Teehäusern sitzen oder auf ihren sedirs , Matratzen, liegen sieht, wie sie sisa , Wasserpfeife, rauchen, dann könnten sie »Vorschein«, nach dem von Ernst Bloch geprägten Begriff, einer von Arbeit befreiten klassenlosen Gesellschaft sein, in der endlich das »Recht auf Faulheit« (Paul Lafargue), »die Nichtarbeit als ›Freiheit und Glück‹« (Karl Marx) gilt. Man darf nur nicht auf die Felder oder in die Häuser schauen, denn dann trübt sich dieser Traum der sozialistischen Väter doch ganz prosaisch ein: Dort schuften nämlich die Frauen.
Die amerikanische Anthropologin Carol Delaney hat in den 1980er Jahren zwei Jahre lang das Leben in einem zentralanatolischen Dorf studiert. Ihr Ergebnis: Die männlichen Dorfbewohner erachten nur das Zeugen von Söhnen als sinnstiftende Tätigkeit, Arbeit hingegen als »Vorahnung der Hölle«: »Die Dorfbewohner müssen arbeiten, sie mögen es jedoch nicht; auf Arbeit in jeder Form wird abschätzig herabgesehen. Sie gilt nicht als Möglichkeit, etwas über das Leben zu lernen, oder als Bestätigung des Selbst. Der Sinn des Lebens wird nicht mit Begriffen für Arbeit erfasst. Zu sitzen gilt vielmehr als mustergültige menschliche Tätigkeit.« 82
› Hinweis Sitzen heißt auf Türkisch oturmak , und damit ist sowohl »sitzen, genießen«, wie auch »leben, wohnen« gemeint. Dieses Sitzen, Karten- oder Dominospielen – auf jeden Fall Nichtarbeit – scheint der Fixpunkt allen Strebens, das Ziel des Lebens zu sein. 83
› Hinweis
Ja, ich weiß: Selbstverständlich, wer wollte das bestreiten, gibt es jede Menge fleißiger, hart arbeitender Männer unter den Muslimen. So wie es auch in anderen Kulturen jede Menge Paschas gibt, die sich – sei es als Spekulanten oder als Schmarotzer – nur die Ergebnisse der Arbeit anderer aneignen. Es geht mir bei dieser Beschreibung um die bestimmenden Paradigmen, die »Ethik«, das sittliche Verständnis, die Tradition, die jede Gesellschaft reproduziert, die sie aber auch infrage stellen und verändern kann.
Das Ideal der Nichtarbeit hat sein großes Vorbild in
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