Bittersüße Heimat.
dem auf dem Harems-Diwan liegenden Pascha, ein Bild, das nicht mit dem Osmanischen Reich untergegangen ist, sondern in den Dörfern, den Hochhäusern der Vorstädte und selbst in der Migration fröhliche Urständ feiert – besonders dort, wo sich die Strukturen von Großfamilien erhalten haben. Alles ist darauf gerichtet, die Familie durch Verheiratung und Kindersegen so zu vergrößern, dass dem Haushaltsvorstand, dem männlichen Oberhaupt, irgendwann von seinen Schwiegertöchtern, Söhnen und Enkeln alle Tätigkeiten abgenommen werden.
Die solidarische Zwangsgemeinschaft
Viele türkische Familien, sowohl in der Migration wie in der Türkei, sind »gemeinwirtschaftlich« organisiert. Ihre Mitglieder wohnen in einem Haus oder nahe beieinander und wirtschaften gemeinsam. Das Familienoberhaupt, meist der Älteste, eignet sich alle Löhne an und verteilt sie nach Gutdünken. Er entscheidet darüber, ob der Sohn ein Auto bekommt oder die Tochter zur Schule geht, kurz, über alle finanziellen Angelegenheiten. Das hört sich solidarisch an, weil die »Gemeinschaft« für alle, auch für die Großeltern und die Enkel, aufkommt; der Einzelne allerdings bleibt in diesem System der Bevormundung mit seinen eigenen Lebensplänen auf der Strecke.
Turgay, ein junger Mann aus Ankara, erzählte mir, wie er nach seinem Elektronikstudium eine Anstellung in einer Fabrik gefunden hatte und relativ gut verdiente. Er wohnte zu Hause und gab von seinem Gehalt den größten Teil in die Familienkasse. Den Rest sparte er, um sich seinen größten Wunsch zu erfüllen: eine Reise ins Ausland. Als er das Geld beisammenhatte, wurde aber von seinen Eltern beschlossen, dass sein Abi, sein älterer Bruder, heiraten sollte. Zur Hochzeit und der neuen Wohnungseinrichtung des Bräutigams mussten alle Familienmitglieder ihren Beitrag leisten. Aus Turgays geplanter Reise wurde eine Einbauküche für die Braut des Bruders. Turgay wird sich wohl auch weiterhin die fernen Orte seiner Träume nur im Fernsehen ansehen können, denn wie der Ingenieur sarkastisch bemerkte: »Ich spare nicht mehr, sondern gebe jetzt alles aus. Ich habe nämlich noch zwei Schwestern.«
»Der Mensch macht, um zu sein«
Die türkische Wirtschaft hat nicht nur ein technisches und organisatorisches Modernitätsdefizit, sondern sie hat auch mit vormodernen Arbeitsauffassungen zu kämpfen. Weil man den Menschen in erster Linie als Sozialwesen sieht, das der Gemeinschaft zu die nen hat, ist es schwer, Individuen hervorzubringen, die nach Max Weber den Beruf als Verpflichtung sehen – für den Soziologen die ethische Voraussetzung für die Entwicklung einer modernen Gesellschaft. 84
› Hinweis In einer solchen Gesellschaft muss den Arbeitenden fremd vorkommen, was die französische Philosophin Simone de Beauvoir über das »Tun« schrieb – dass es selbst Teil von Freiheit und Glück sein kann: »Das menschliche Sein existiert in der Gestalt von Entwürfen, die nicht Entwürfe auf den Tod hin sind, sondern Entwürfe auf bestimmte Ziele hin. Der Mensch jagt, er fischt, er schafft sich Instrumente, er schreibt Bücher; die sind keine Zerstreuungen, keine Flucht, sondern Bewegung auf das Sein: Der Mensch macht, um zu sein.« 85
› Hinweis Es fehlt auch der Stolz auf das »Handwerk«, das der amerikanische Soziologe Richard Sennett als gekonntes Zusammenspiel von Kopf und Hand beschrieben hat, in dem »sein Handwerk verstehen« bedeutet, eine Arbeit um ihrer selbst willen gut zu machen. »Der Stolz auf die eigene Arbeit«, schreibt er, »bildet den Kern handwerklichen Könnens und Tuns, da er den Lohn für sein Geschick und sein Engagement bildet.« 86
› Hinweis
Die Tradition des Handwerks aber war in der Geschichte Anatoliens immer bei denen aufgehoben, die in der Zeit der osmanischen Herrschaft als Ungläubige diskriminiert und später von den Jungtürken vertrieben oder vernichtet wurden.
Das schwere Erbe der Osmanen
Bis ins 19. Jahrhundert hinein beherrschten die osmanischen Sultane fast 90 Prozent des bebaubaren Bodens Anatoliens. Die an Eroberungen interessierten Gotteskrieger verstanden sich auf Feldzüge und Handel, nicht aber auf Landwirtschaft und Handwerk. Nicht der Besitz an Land war ihnen wichtig, sondern nur die dingliche und menschliche Beute, die daraus zu gewinnen war. Ihr Reichtum entstand aus Aneignung, nicht aus Arbeit. Was sie auf ihren »Razzien« erbeuteten, wurde unter den Gläubigen verteilt. Die eroberten Gebiete gingen in den Besitz der
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