Bittersüße Heimat.
Benzin auf seiner Reise nicht ausgehen wird. Auf den Bildschirmen im Bus läuft ein Film mit Bruce Willis. Autos explodieren und fliegen durch die Luft, es wird gebrüllt und geschossen – welch ein Kontrast zu dem Frieden, der über dem Land liegt.
Bei Kayseri steigt der Erciyes Dagi auf 3917 Meter an. Ich werde unruhig, als ich den schneebedeckten Gipfel des majestätischen Berges vor mir sehe. Denn diese Landschaft ist für mich voller Geschichten. Pinarbashe liegt bereits auf einer Höhe von 1500 Metern. Dort steigen wir aus, um uns wenigstens kurz den Ort anzusehen. Später halten wir den nächsten Bus an, um weiter nach Malatya zu kommen. Hinter Pinarbashe erstreckt sich das »Weite Tal«, das Uzun Yayla, wo ich vor einigen Jahren Haluk, den Tscherkessen mit den himmelblauen Augen, dessen Leben von seinem älteren Abi zerstört worden war, inmitten der vielen verlassenen Häuser seines Dorfes getroffen habe. Über hundert Kilometer nach Osten erstreckt sich hier eine von Bergen umkränzte fruchtbare Ebene auf fast 2000 Metern Höhe. Wo Wasser fließt, säumen Aprikosenbäume die Ufer der Bäche, nach denen es meinen Onkel Enischte so sehr verlangte, als er in Istanbul als Schuljunge hungerte. Der Bus hält auch in Gürün, wo meine Großmutter Emmana geboren wurde. Die neueste Errungenschaft der Raststätte dort sind zwei elektrische Massagesessel, die mitten im Gastraum stehen. Ansonsten hat sich wenig verändert – es gibt Bohnensuppe oder Auberginen mit Hackfleisch und Reis für wenig Geld und dazu das obligatorische Glas Tee.
Die frauenlose Aprikosenstadt
Es dauert noch Stunden, bis wir endlich in Malatya ankommen. Malatya mit seinen etwa 250.000 Einwohnern gilt als die »Aprikosenstadt«. Das milde Höhenklima lässt die Früchte besonders gut gedeihen. Die Luft ist trocken, und deshalb eignet sich die Gegend auch für die Produktion von Trockenfrüchten. Das klassische Souvenir aus Malatya ist ein Teller mit getrockneten Aprikosen und Nüssen.
Die beiden Frauen von Ka-mer erwarten uns bereits im Hotel. Es sind junge, selbstbewusste Frauen um die dreißig, die vor kurzem begonnen haben, auch in dieser Stadt eine Anlaufstelle für bedrohte Frauen aufzubauen. Ich schildere ihnen die Situation, in der Fatma sich befindet. Zuerst schlagen sie vor, dass wir gemeinsam nach K. fahren und versuchen, mit Fatma zu sprechen. Aber als ihnen klar wird, wie weit der Ort entfernt und wie schwierig die Sache ist, beschließen wir, dass sie mit dem zuständigen Beamten beim Sozialamt in K. telefonisch Kontakt aufnehmen und unser Kommen ankündigen. Wir verabreden uns für den nächsten Morgen, bis dahin wollen sie alles organisiert haben.
Als wir gegen sechs Uhr abends durch die Stadt schlendern, wirkt sie auf uns ein wenig gespenstisch. Es gibt breite Boulevards, im klassischen Stil gebaute öffentliche Gebäude, einen großen Park – aber keine Frauen auf der Straße. Nur ab und zu huscht eine Frau mit Kopftuch an uns vorbei, ansonsten laufen nur Männer in der Stadt herum, junge Männer, die ziel- und orientierungslos wirken – so als wüssten sie nicht, wohin. Eine merkwürdig resignative Stimmung liegt über dieser Männergesellschaft, ein harter Kontrast zu den stolzen Boulevards. Als wir ein Restaurant betreten, sitzen auch da nur Männer zusammen mit anderen Männern, essen, trinken Tee und schwatzen. Ein Paar wie wir ist eine Ausnahme und wird entsprechend beäugt.
Noch vor zwanzig, dreißig Jahren gehörte es zum neuen Leben der Republik, dass auch Frauen durch die Stadt flanierten. Inzwischen ist die anatolische Öffentlichkeit frauenlos geworden. Ich fühle mich unwohl, und mir wird klar, dass ich als Frau allein diese Reise niemals machen könnte. Ich falle auf, nicht weil ich eine Fremde bin, sondern weil ich als Frau abends durch die Stadt spazieren gehe.
In der Hotelbar flimmern die Bilder vom Einmarsch der türkischen Truppen in den Irak über den Fernseher. Sie seien ausgezogen, den »internationalen Terror« zu bekämpfen, heißt es. Politiker aller Parteien haben sich, die Hand auf dem Herzen, vor der im Wind flatternden türkischen Fahne versammelt und verabschieden die Truppen; Mütter, die ihre Söhne der Fahne weihen,weinen vor Freude. Und im nächsten Moment stürmen hochgerüstete Einsatzkommandos Häuser, treten Türen ein und führen Männer in ärmellosen Unterhemden in Handschellen ab. Wir fragen uns: Hat der Krieg angefangen und wir haben davon nichts mitbekommen? Der Kellner nimmt
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