Bittersüße Heimat.
ertränkt, erfroren, verdurstet, verhungert,verfault, von Schakalen angefressen. Kinder weinten sich in den Tod. Männer zerschmetterten sich an den Felsen. Schwangere stürzten sich, die Hände aneinandergebunden, mit Gesang in den Euphrat.« Doch seine Appelle verhallten ungehört. Die Weltöffentlichkeit blieb ungerührt.
1929 reiste der Schriftsteller Franz Werfel in dieses Gebiet und war von seinen Begegnungen mit den wenigen überlebenden Armeniern tief erschüttert. 1933 erschien sein großartiger Roman »Die vierzig Tage des Musa Dagh«, der von dem Widerstand von 5000 Armeniern gegen die jungtürkischen Todesboten handelt. Mit diesem Buch wollte Werfel den Europäern das Verbrechen der Türken ins Bewusstsein schreiben. Der Roman wurde von den Nationalsozialisten sofort verboten.
Falsche Rücksichtnahme
Warum hat es bisher niemand gewagt, Franz Werfels grandiosen Roman zu verfilmen? Vielleicht, weil Hollywood einen Boykott auf dem türkischen Markt fürchtet? Warum bedurfte es erst einer Entschließung des deutschen Bundestages, damit die Dokumente von Johannes Lepsius über den Genozid in den nächsten Jahren endlich im Lepsiushaus in Potsdam ausgestellt werden können?
Fürchtet man in Deutschland die türkischen Nationalisten? Auf Intervention des türkischen Botschafters sollten vor einigen Jahren die Schulgeschichtsbücher für Brandenburg »bereinigt« werden – von dem Völkermord sollte keine Rede mehr sein; erst auf öffentlichen Druck hin wurde die Entscheidung zurückgenommen.
Gerade uns in Deutschland muss daran gelegen sein, dass das geschichtsklitternde Reinheitsgebot türkischer Politiker vom Schlage Abdullah Güls nicht unwidersprochen bleibt; dass die Beziehung zwischen Türken und Armeniern, aber auch zwischen den Türken und der übrigen Welt nicht länger auf einer Lüge aufgebaut ist. Deutsche und Türken haben eine lange gemeinsame Geschichte, und zu manchen Zeiten waren die Interessen der deutschen und türkischen Politik eng miteinander verwoben – vor allem die militärischen. Helmuth von Moltke, Mitglied des Generalstabs der Preußischen Armee, wurde 1836 Instrukteur der türkischen Streitkräfte. Deutsche Offiziere reorganisierten die türkische Armee Ende des 19. Jahrhunderts und blieben über Jahrzehnte deren Berater. Der deutsche Oberst Liman von Sanders stand 1915 an der Seite Atatürks im Kampf um die Dardanellen. Türken und Deutsche kämpften oft Seite an Seite, und gemeinsam gingen das deutsche Kaiserreich und das Osmanische Reich infolge des Ersten Weltkriegs unter. Von dem Völkermord an den Armeniern durch die Türken 1915 wusste die deutsche Heeresleitung, sie schwieg dazu aus Bündnisopportunitäten. So war es damals. Und heute?
2007 war zunächst in Istanbul, dann in anderen türkischen Städten unter dem Titel »Haymatloz« eine vom Goethe-Institut organisierte Ausstellung über das deutsche Exil in der Türkei zu sehen. Aus Interesse kaufte ich mir beide Kataloge, die deutsche wie die türkische Ausgabe, und stieß dabei auf erstaunliche Unterschiede.
Haymatloz
Atatürk profitierte, wie schon 1492 Sultan Bayezid II., bei seinem Programm der Erneuerung der Türkei vom Unglück der Juden. Die von der Inquisition aus Spanien vertriebenen sephardischen Juden, die im 15. Jahrhundert das Wissen von Al Andaluz ins fünfzig Jahre zuvor von den Osmanen eroberte Konstantinopel brachten, waren meist Gelehrte, Ärzte und Kaufleute. So kamen medizinische Kenntnisse, aufklärerische Ideen, der Buchdruck und die Feuerwaffen ins osmanische Reich. 74
› Hinweis Auch 1933, als Juden und Andersdenkende aus Nazideutschland vertrieben wurden, fanden viele in der Türkei Zuflucht. Das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 7. April in Deutschland führte zur Entlassung von Wissenschaftlern und Künstlern aus rassischen und politischen Gründen und beförderte den Exodus vor allem der jüdischen Intelligenz und politischen Opposition.
Die türkische Regierung reagierte schnell. Am 6. Juli 1933 lud sie Vertreter der »Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland«, die im März von Emigranten in Zürich gegründet worden war, nach Ankara ein. Man vereinbarte die Berufung von dreißig deutschen Professoren, die auf drei bis fünf Jahre befristete Arbeitsverträge erhielten. Mit ihnen wollte Atatürk das Fundament für die revolutionäre Erneuerung der Türkei legen. Am 31. Juli wurde die islamische Universität Dar-ül-Funun (Haus der Wissenschaften)
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