Bittersuesser Verrat
schließlich angerufen, es gab dort nämlich keine Treppe. Vampire brauchten so etwas nicht. Sie konnten aus vier Metern Höhe auf massiven Stein springen, ohne auch nur ein Stechen zu spüren. Claire war sich sicher, dass sie sich dabei mindestens etwas brechen würde. Sie war keine Superheldin und keine magische Vampirschlächterin, sie war nicht einmal eine besonders gut koordinierte Athletin. Michael war ihr Weg hinein - und hoffentlich auch heraus.
Natürlich stellte es auch einen Vorteil dar, dass ein Freund mit ihr hinunter in die Finsternis kam.
Zum Glück schien es Michael nichts auszumachen, für sie die Leiter zu spielen; er sah ein paar Sekunden lang hinunter in die Dunkelheit und verrenkte sich den Hals, um alle Details von dem zu sehen, was für Claire hinter einem rabenschwarzen Vorhang verborgen blieb. »Sieht frei aus«, sagte er. »Bist du sicher, dass du das tun möchtest?«
»Sie will nicht damit rausrücken, wo Myrnin ist. Hier oben ist er jedenfalls nicht und der Teppich war zurückgeschlagen. Er muss da runtergegangen sein.«
»Gibt es einen Grund dafür, weshalb wir nicht einfach hier oben auf ihn warten?«
»Ja. Ada hat jetzt schon zweimal versucht, mich umzubringen, und wer weiß, was sie mit ihm versucht hat. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr, Michael.«
»Dann sollten wir vielleicht Hilfe rufen.«
Claire lachte ein bisschen hysterisch. »Wen zum Beispiel? Amelie? Du hast sie auf dem Friedhof gesehen. Glaubst du wirklich, wir sollten uns momentan auf sie verlassen?«
Ob Claire recht hatte oder nicht - Michael musste gemerkt haben dass Diskussionen sie nicht weiterbrachten. Er zuckte mit den Schultern und sagte: »Na schön. Wenn du umgebracht wirst, dann werde ich dich auf ewig heimsuchen.«
»Wäre ja nicht das erste Mal.«
Er zwinkerte ihr zu, machte einen Schritt über den Abgrund und fiel lautlos in die Dunkelheit. Claire trat rasch vor, schnappte sich eine Maglite und leuchtete damit nach unten in die Falltür. Etwa vier Meter unter ihr blickte Michaels bleiches Gesicht zu ihr hinauf. Seine Augen sahen übernatürlich hell aus, als sich seine Pupillen im Lichtschein zusammenzogen.
»Gut«, sagte er. »Spring.«
Sie hatte das schon einmal mit Myrnin gemacht, dennoch fühlte sie sich nie direkt wohl dabei. Trotzdem, das war Michael, und wenn man irgendeinem Vampir trauen konnte...
Sie schloss die Augen, holte tief Luft und ließ sich direkt in seine kühlen, starken Arme plumpsen. Michael ließ sie sanft auf den Boden und schaute dabei bereits an ihr vorbei in die Dunkelheit. »Hier unten gibt es Kreaturen«, sagte er.
»Vampire.«
»Nicht... sicher, ob ich das als Vampire bezeichnen würde, Kreatur trifft es irgendwie besser.« Michael klang ein wenig nervös. »Sie... beobachten uns einfach.«
»Sie sind so etwas wie Wachhunde. Beobachte sie auch, okay?«
»Mach ich, ja. Wo lang?«
»Da lang.« In der Dunkelheit konnte man schnell die Orientierung verlieren, aber Claire hatte ein ziemlich gutes Gedächtnis und es gab genügend seltsam geformte Felsen an den Wänden. Einige hatte sie sich als Wegweiser gemerkt. Der Lichtkegel der Taschenlampe tanzte umher und ließ Granitecken und Glasscherben glitzern, die auf dem Boden verstreut waren. Es lagen auch einige Knochen herum. Claire glaubte nicht, dass es menschliche Knochen waren, aber das war wahrscheinlich Wunschdenken.
»Boah«, sagte Michael und packte sie an der Schulter, als sich der Tunnel zu einem großen Raum öffnete. Sie wusste, was er sah - die große Höhle, die Ada beherbergte. Er war früher schon einmal hier gewesen, war aber nicht durch den Tunnel gekommen; es war ein wenig schockierend, wie er sich zu diesem riesigen, widerhallenden Raum öffnete.
»Lichter«, sagte Claire. »Links, an der Wand.«
»Ich seh sie. Bleib hier.«
Sie blieb stehen und umklammerte das Metall der Taschenlampe fester, bis plötzlich das Summen von Energie das blendende Aufflackern der Lichter an der Decke ankündigte. Claire blinzelte und sah, dass Ada – der Computer, nicht das flache, computergenerierte Bild, in dem sie sich so gerne zeigte - in vollem Powermodus war. Zahnräder knirschten wie riesige Zähne, aus Rohren schoss zischend Dampf hier und da blubberte Flüssigkeit in riesigen Glaskolben.
Myrnin lag mit dem Gesicht nach unten auf der riesigen Tastatur.
»Oh nein«, flüsterte Claire und rannte zu ihm. Bevor sie ihn jedoch berühren konnte, kam Michael wie der Blitz angeschossen und hielt ihre Hand
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