Bittersüßes 7. Jahr
Irgendeine Sitzung, dachte Peter. Die Menschen sind so friedlich, warum sind es die Regierungen nicht?
Er drehte einen weiten Bogen über den großen Platz, umfuhr den Obelisk, das Beutestück Napoleons I. aus seinem Ägyptenfeldzug, und fuhr dann über den Pont de la Concorde, über die schmutzige Seine, an der auch schon die Angler standen, als hätten sie die ganze Nacht über gefischt. Er rollte auf den Boulevard St. Germain, der Hochburg der Sartreschen Existentialisten.
Vor dem Hause Heinz v. Kletows hielt er. Er sah die hohe Fassade hinauf. Es war ein unschönes Haus, alt und mit vielen Schnörkeln an den Simsen. Die Holzjalousien waren zum großen Teil noch vor den Fenstern, einige schief, lückenhaft, mit verrosteten Halteketten.
Sie schliefen noch alle, dachte Peter. Hier ist die Nacht zum Leben da, und der Tag zum Schlafen. Die Welt steht hier kopf.
Aus der großen und breiten Haustür trat ein Mann auf die Straße. Er war alt, hatte die übliche braune Baskenmütze auf den kurzen weißen Haaren und musterte kritisch das vor dem Hause parkende Auto.
Er erkannte die deutsche Nummer, spuckte einen Tabakkrümel auf die Straße und tippte mit dem Zeigefinger grüßend an den Lederrand seiner Mütze.
»Monsieur Sacher?« fragte er.
»Ja.« Peter nickte verwundert. Dann fiel ihm ein, daß der alte Mann ja kein Deutsch verstand. Kühn sagte er: »Oui.«
»Pierre Sacher, Düsseldorf?«
»Oui!«
Peter sah in das Stückchen blauen Himmel, das in die Straße blickte. Er suchte angestrengt nach französischen Vokabeln, die er zum letztenmal vor über zwanzig Jahren auf dem Gymnasium reichlich desinteressiert gehört hatte. Man hätte sich einen Sprachführer mitnehmen sollen, dachte er. Wer weiß, was einem in Frankreich alles noch zustößt. Da ist man nun in Paris, kann oui, non und je t'aime, na ja, und eigentlich ist das auch genug. Damit kann man schon weiterkommen in Paris, vor allem mit dem letzten. Je t'aime ist eine Vokabel, die für tausend andere Worte gut ist.
Der alte Mann mit der Baskenmütze sah Sacher mit schiefem Kopf an. Er wartete auf etwas. Peter suchte krampfhaft nach Schulerinnerungen und hatte es endlich zusammen.
»Monsieur Kletow, est-il …« Er hing schon wieder fest. Mein Gott, wie heißt bloß ›in seiner Wohnung‹? Er zeigte nach oben auf die Fenster. Der alte Mann sah seinem Finger nach und hob die Schultern.
»Monsieur Kletow est en voyage«, sagte er mürrisch.
»Aha!« Peter nickte verständnisvoll. »Soso. Merci!« En voyage, dachte er dabei. Das Wort kenne ich. Das haben wir bestimmt in der Schule gehabt. Was heißt es denn bloß? Wäre man damals kein so mittelmäßiger Schüler im Französischen gewesen, könnte man jetzt flott parlieren. Aber damals hatte man mild über den Tölpel von Lehrer gelächelt, der einem weismachen wollte: Nicht für die Schule, für das Leben lernt ihr!
Peter beugte sich in seinen Wagen und zog den Zündschlüssel heraus. Er wollte Zeit gewinnen. Nachdenken.
Sein Blick fiel, als er die Autokarte auch noch zuklappte, auf das Titelblatt der Mappe. In drei Sprachen war da aufgedruckt: Für Reisende – For travellers – Pour Voyageurs –
Peter zuckte zurück und stieß sich den Kopf hart an der Fensterleiste des Wagens.
»Mein Freund ist verreist?« sagte er entsetzt.
»Oui!«
»Aber das geht doch nicht!«
»Pourquoi?«
Pourquoi heißt: warum. Was für eine Frage, dachte Peter. Da stehe ich jetzt allein in Paris und –
»Monsieur Kletow weiß doch, daß ich komme! Was soll ich denn jetzt in Paris? Wohin ist er denn? Wann kommt er denn wieder?«
Der alte Mann, einer jener unsterblichen Pariser Hausmeister, hob wieder die Schultern. Er nahm eine Zigarette mit schwarzem Tabak aus dem Rock und steckte sie sich an. »He?« fragte er und musterte Peter wie einen Steuerbeamten.
»Nix compris?« Peter nickte verzweifelt. »Natürlich nix compris! Ich auch nicht! Sauerei!« Er lehnte sich gegen den Wagen und steckte sich eine Zigarette an. Der Hausmeister sah wohlgefällig auf die deutsche Schachtel und schnupperte wie ein Hund durch die Luft, als Peter den Qualm des ersten Zuges aus dem Mund stieß.
»Zigarette?« fragte Sacher und hielt dem alten Mann die Schachtel hin.
»Merci bien.«
Gleichzeitig mit dem Griff zur Zigarette holte er mit der anderen Hand einen Schlüsselbund hervor und streckte ihn Peter entgegen.
»Pour vous, Monsieur Sacher.«
»Aha! Compris!«
Peter nahm den Schlüsselbund und schaukelte ihn in den
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