Black Box: Thriller (German Edition)
Beschuss geschützt wäre. Zweifellos hatte sie sich selbst in Gefahr gebracht. Er fragte sich, was ihr letzter Gedanke gewesen sein mochte, als ihr Mörder seine Pistole auf ihr Auge gerichtet hatte. War sie wie Zinn gewesen? Hatte sie ein Foto von ihm gemacht?
Laut einer in der RCTF -Akte enthaltenen Liste, die von Jespersens Redakteur in Kopenhagen stammte, hatte sie zwei Nikon 4 s und mehrere Objektive bei sich gehabt. Natürlich war ihre Ausrüstung gestohlen worden und nicht wieder aufgetaucht. Jegliche fotografischen Hinweise, die ihre Kameras enthalten haben mochten, waren verlorengegangen.
Die Filme, die in den Taschen ihrer Weste gefunden worden waren, hatten die RCTF -Ermittler entwickeln und vergrößern lassen. Die vier Kontaktabzugbögen mit sämtlichen sechsundneunzig Aufnahmen befanden sich zusammen mit einigen großformatigen Schwarzweißabzügen im Mordbuch. Sie lieferten jedoch keinerlei Beweise oder Anhaltspunkte, sondern zeigten lediglich, wie die in das Chaos von Los Angeles beorderte California National Guard am Coliseum zusammengezogen wurde. Auf anderen Fotos waren Nationalgardisten an den Barrikaden zu sehen, die sie an verschiedenen Kreuzungen des Unruhegebiets errichtet hatten. Es waren keine Aufnahmen von Gewalttaten, Brandstiftungen oder Plünderungen dabei, aber einige Aufnahmen zeigten geplünderte oder ausgebrannte Geschäfte, vor denen Nationalgardisten postiert waren. Offensichtlich hatte Jespersen die Fotos am Tag ihrer Ankunft in L.A. gemacht, nachdem sie vom LAPD ihren Presseausweis erhalten hatte.
Die Aufnahmen mochten einen historischen Wert für die Dokumentation der Unruhen von 1992 haben, doch für die Mordermittlungen waren sie als wertlos erachtet worden, eine Einschätzung, der sich Bosch auch zwanzig Jahre später anschließen musste.
Außerdem enthielt die RCTF -Akte eine am 11 . Mai 1992 erstellte Liste, die dokumentierte, was vom Avis-Leihwagen übrig geblieben war, den Jespersen vor Ausbruch der Unruhen am San Francisco International Airport gemietet hatte. Das Auto war im Crenshaw Boulevard gefunden worden, sieben Häuserblocks von der Durchfahrt entfernt, in der Jespersens Leiche entdeckt worden war. In den zehn Tagen, die der Wagen dort gestanden hatte, war er aufgebrochen und komplett ausgeschlachtet worden. Dem Bericht zufolge waren das Auto und sein Inhalt, beziehungsweise dessen Fehlen, für die Ermittlungen von keinerlei Wert.
Das alles lief darauf hinaus, dass die Hoffnungen auf eine Lösung des Falls auf dem einzigen Beweisstück ruhten, das Bosch in der ersten Stunde des Ermittlungsverfahrens gefunden hatte. Die Patronenhülse. Im Laufe der letzten zwanzig Jahre hatte die Kriminaltechnik eine rasante Entwicklung durchlaufen. Dinge, die man sich damals nicht einmal hätte träumen lassen, waren inzwischen selbstverständlich. Neue technologische Methoden zur Beweismittelanalyse und Verbrechensaufklärung hatten weltweit zu einer Wiederaufnahme alter unaufgeklärter Strafverfahren geführt. Inzwischen hatte jede größere Polizeidienststelle ein Dezernat, das sich ausschließlich mit der Aufklärung kalter Fälle befasste. Dank des Einsatzes neuer Technologien waren die Ermittlungen in solchen alten Fällen manchmal ein Kinderspiel, und nicht selten führten die Vergleiche von DNA -Spuren, Fingerabdrücken und ballistischen Daten bei Straftätern, die lange geglaubt hatten, ungeschoren davonzukommen, zu sofortigen Erfolgen.
Manchmal war die Sache allerdings komplizierter.
Als Bosch den Fall Nummer 9212 - 00346 neu öffnete, war eine seiner ersten Maßnahmen, die Patronenhülse in der Ballistikabteilung untersuchen und auswerten zu lassen. Aufgrund der Arbeitsüberlastung und wegen des niedrigen Dringlichkeitsstatus der von Offen-Ungelöst eingereichten kalten Fälle vergingen drei Monate, bis Bosch das Ergebnis erhielt. Es war kein Allheilmittel und keine Antwort, die den Fall schlagartig löste, aber es war ein Wegweiser. Nach zwanzig Jahren ohne Gerechtigkeit für Anneke Jespersen war das schon einmal etwas.
Der Ballistikbefund verhalf Bosch zu dem Namen Rufus Coleman, einem einundvierzig Jahre alten Mitglied des harten Kerns der Rolling Sixties, einer Untergruppierung der Crips. Aktuell saß Coleman wegen Mordes im California State Penitentiary in San Quentin ein.
2
E s war fast Mittag, als die Tür aufging und Coleman von zwei Gefängniswärtern hereingeführt wurde. Er wurde mit den Armen hinter dem Rücken an den Stuhl gekettet, der Bosch am
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