Black Box: Thriller (German Edition)
anzurufen, egal zu welcher Tageszeit.
Dann nahm er die Fallunterlagen aus seinem abgewetzten Aktenkoffer und begann, sie ein weiteres Mal durchzugehen, wobei er dieses Mal alles im Licht einer neuen Hypothese betrachtete – dass Anneke Jespersen bereits an einer Reportage gearbeitet hatte, als sie in die Staaten kam.
Das machte vieles verständlicher. Jespersen war mit leichtem Gepäck gereist, weil sie
nicht
Urlaub machte. Sie hatte gearbeitet, und sie hatte Arbeitskleidung dabeigehabt. Einen Rucksack, mehr nicht. Um flexibel zu sein. Um sofort aufbrechen und ihrer Story folgen zu können – was auch immer das für eine Story war.
Der veränderte Blickwinkel brachte weitere Dinge ans Licht, die er übersehen hatte. Jespersen war Fotojournalistin. Sie machte Fotos für Reportagen. Sie schrieb Texte für Reportagen. Aber an ihrer Leiche oder unter den Sachen in ihrem Hotelzimmer war kein Notizbuch gefunden worden. Hätte es nicht Notizen geben müssen, wenn sie an einer Reportage gearbeitet hatte? Hätte in einer der Taschen ihrer Weste oder in ihrem Rucksack nicht ein Notizbuch stecken müssen?
»Was noch?«, sagte Bosch laut und blickte sich dann im Bereitschaftsraum um, ob er noch allein war.
Was fehlte sonst noch? Was hätte sie alles dabeihaben müssen? Bosch bediente sich einer mentalen Technik. Er versetzte sich in Gedanken in ein Hotelzimmer und stellte sich vor, wie er es verließ und die Tür hinter sich zuzog. Was hätte er dabei?
Nach kurzem Nachdenken kam ihm eine Idee. Rasch blätterte er die Akte nach der Liste mit den persönlichen Dingen des Opfers durch, in die ein Rechtsmediziner handschriftlich alle Gegenstände eingetragen hatte, die an der Leiche oder in der Kleidung der Toten gefunden worden waren. Darin waren die einzelnen Kleidungsstücke aufgeführt sowie eine Geldbörse, loses Kleingeld, eine Armbanduhr und eine schlichte silberne Halskette.
»Kein Zimmerschlüssel«, sagte Bosch laut.
In seinen Augen bedeutete das eines von zwei Dingen. Entweder hatte sie den Zimmerschlüssel in ihrem Mietwagen gelassen, und er war gestohlen worden, als das Auto aufgebrochen wurde. Wahrscheinlicher war jedoch, dass Jespersens Mörder den Hotelzimmerschlüssel aus ihrer Tasche genommen hatte.
Er sah die Liste noch einmal durch, dann nahm er sich die Klarsichthüllen mit den Polaroidfotos vor, die er vor zwanzig Jahren selbst aufgenommen hatte. Die verblichenen Fotos zeigten den Tatort aus unterschiedlichen Blickwinkeln und die Leiche, wie sie gefunden worden war. Zwei der Bilder waren Nahaufnahmen des Oberkörpers, auf denen die Hose des Opfers deutlich zu sehen war. Am oberen Rand der linken Tasche war ein Stück des weißen Futters zu sehen. Bosch hatte keinen Zweifel, dass die Hosentasche herausgezogen worden war, als jemand die Taschen der Toten durchsucht hatte. Und dann hatte dieser Jemand zwar Jespersens Hotelzimmerschlüssel an sich genommen, Uhr, Halskette und Bargeld aber nicht angerührt.
Anschließend hatte er aller Wahrscheinlichkeit nach das Motelzimmer durchsucht. Wonach, war nicht klar. Aber es war kein Notizbuch oder auch nur ein einziger Zettel unter den persönlichen Dingen gewesen, die das Hotelpersonal der Polizei übergeben hatte.
Bosch hielt es nicht mehr auf seinem Stuhl. Er hatte das Gefühl, irgendetwas auf der Spur zu sein. Allerdings hatte er keine Ahnung, was das war und ob es überhaupt etwas mit dem Mord an Anneke Jespersen zu tun hatte.
»Hallo, Harry.«
Bosch drehte sich um und sah seinen Partner in das Abteil kommen.
»Morgen.«
»Du bist heute aber schon früh da.«
»Nein, genau wie immer. Nur du kommst spät.«
»Hast du etwa Geburtstag gehabt oder was?«
Bosch sah Chu kurz an, bevor er antwortete.
»Ja, gestern. Woran hast du das gemerkt?«
Chu zuckte mit den Achseln.
»Deine Krawatte. Sieht nagelneu aus. Aber wie ich dich kenne, würdest du dir selbst nie so eine bunte kaufen.«
Bosch blickte auf seine Krawatte hinab und strich sie auf seiner Brust glatt.
»Sie ist von meiner Tochter«, sagte er.
»Sie hat jedenfalls Geschmack. Ganz im Gegensatz zu dir.«
Chu lachte und sagte, er werde sich in der Cafeteria eine Tasse Kaffee holen. Das machte er immer so. Er meldete sich jeden Morgen zuerst im Bereitschaftsraum und machte dann sofort eine Kaffeepause.
»Möchtest du irgendwas, Harry?«
»Ja, könntest du im Computer einen Namen überprüfen?«
»Nein, ich meine, ob ich dir einen Kaffee oder sonst was mitbringen soll?«
»Nein,
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