Black Box
auswendig gelernt und ihn vor der versammelten Klasse vorgetragen, fehlerlos.«
»Jetzt hör aber auf«, sagte die Frau. »Das ist doch ein Trick. Wahrscheinlich ist unter dem Glas ein Lautsprecher verborgen, und wenn du lauschst, hörst du eine Aufnahme, jemand, der ›Whiskey‹ flüstert.«
»Ich habe kein Flüstern gehört«, entgegnete der Vater. »Mir ist nur ein Gedanke gekommen – wie eine Stimme im Kopf … so voller Enttäuschung …«
»Die Lautstärke ist auf ganz leise gestellt«, sagte sie. »Dann hört man das nur unterschwellig. Wie bei den Filmen im Autokino.«
Der Junge setzte die Ohrbügel auf, um die gleichen »stummen Worte« zu hören wie sein Vater.
»Sind das alles berühmte Leute?«, fragte der Mann. Er war blass geworden, obwohl sich kleine rote Flecken auf den Wangen abzeichneten, als hätte er Fieber.
»Keineswegs. Ich habe die letzten Seufzer von Studenten, Büroangestellten und Literaturkritikern eingefangen – die unterschiedlichsten Leute, viele davon absolut gewöhnlich. Das interessanteste Schweigen in meiner Sammlung stammt von einem Klempner.«
»Carrie Mayfield«, las die Frau von einer Karte ab, die vor einem hohen, verstaubten Glasgefäß stand. »Ist das auch eine Ihrer gewöhnlichen Menschen? Eine Hausfrau wahrscheinlich.«
»Nein«, sagte Alinger. »Noch habe ich keine Hausfrau in meiner Sammlung. Carrie Mayfield war eine junge Miss Florida von ausgesprochener Schönheit. Sie war gerade mit ihren Eltern und ihrem Verlobten nach New York unterwegs, um für das Titelbild einer Frauenzeitschrift Modell zu stehen. Es sollte ihr Durchbruch werden. Aber das Flugzeug ist in den Everglades abgestürzt. Hat vielen Menschen das Leben gekostet, die Zeitungen waren voll davon. Carrie hat überlebt. Zumindest vorübergehend. Sie hat sich durch den brennenden Treibstoff gekämpft, um dem Wrack zu entkommen, und dabei Verbrennungen an über achtzig Prozent ihres Körpers davongetragen. Beim Hilferufen hat sie ihre Stimme verloren. Auf der Intensivstation hat sie noch über eine Woche durchgehalten. Ich habe zu der Zeit unterrichtet und sie meinen Medizinstudenten vorgeführt. Eine Kuriosität. Damals hat man nur selten jemand zu sehen bekommen, der mit solchen Verbrennungen noch lebt. Ihre Körperteile waren miteinander verschmolzen. Glücklicherweise hatte ich meinen Aspirator bei mir, sie starb nämlich, als wir sie gerade untersuchten.«
»So etwas Abscheuliches habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehört«, sagte die Frau. »Was war mit ihren Eltern? Ihrem Verlobten?«
»Sie sind alle beim Absturz umgekommen. Vor ihren Augen verbrannt. Ich bin mir nicht sicher, ob ihre Leichname jemals gefunden wurden. Die Alligatoren …«
»Ich glaube Ihnen kein Wort. Alles an dem Museum hier ist erstunken und erlogen! Ich muss schon sagen, das ist ein ziemlich dümmlicher Versuch, den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen.«
»Aber, Schatz …«, sagte ihr Mann.
»Bestimmt ist Ihnen nicht entgangen, dass ich keinen Eintritt verlangt habe«, sagte Alinger. »Diese Ausstellung ist kostenlos.«
»Mensch, Dad, schau mal!« Der Junge stand am anderen Ende des Raumes und las den Namen von einer Karte ab. »Das ist der Mann, der James und der Riesenpfirsich geschrieben hat!«
Alinger wandte sich bereitwillig zu ihm um und wollte ihm gerade mehr zu diesem Ausstellungsstück erzählen, als er aus den Augenwinkeln die Frau eine Bewegung machen sah.
»Versuchen Sie es lieber zuerst mit einem anderen«, sagte er. Sie setzte sich die Ohrbügel auf. »Manchen Leuten missfällt das, was sie in dem Gefäß von Carrie Mayfield nicht hören können.«
Sie beachtete ihn nicht, sondern setzte die Ohrbügel auf und lauschte mit spitzem Mund. Alinger faltete die Hände und beobachtete ihren Gesichtsausdruck.
Dann machte sie unvermittelt einen Satz zurück. Sie hatte noch immer die Ohrbügel auf, und ihre plötzliche Bewegung ließ das Glas ein Stück über den Tisch schrammen. Alinger blieb fast das Herz stehen. Im letzten Moment bekam er das Gefäß zu fassen, das sonst auf dem Boden zerschellt wäre. Die Frau riss sich unbeholfen die Ohrbügel vom Kopf.
»Roald Dahl«, sagte der Vater und legte seinem Sohn die Hand auf die Schulter. Gemeinsam bewunderten sie das Glas, das der Junge entdeckt hatte. »Du liebe Güte! Für Schriftsteller haben Sie wirklich was übrig, hm?«
»Mir gefällt es hier nicht«, sagte die Frau.
Ihre Augen flackerten, während sie das Glas mit dem letzten Atemzug
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